Miguel Angel Zermeño zeichnet für die Inszenierung des Tanzprojektes „Die Schöpfung – Gemeinsam neu erleben“ verantwortlich. Anspruchsvoll in den Proben und unermüdlich in seinem Engagement, alle Akteure und Projektbeteiligten zusammenzuführen, bringt der international renommierte Tänzer, Tanzpädagoge und Choreograph das Projekt voran. Es ist quase Halbzeit von Probenbeginn bis zur Aufführung und Gelegenheit für einige Fragen zum Projekt:
Die ‚Schöpfung‘ beschäftigt Sie in Projekten seit vielen Jahren. Was macht für Sie die Faszination des Werkes aus?
M. Zermeño: Damals wie heute ist die „Erschaffung der Welt“ ein großes Thema. Es betrifft alle Menschen, alle Kulturen und Zivilisationen. Fragen wie „Woher kommen wir?“ „Wer, welche Idee, welcher Geist steht hinter dem, was uns ausmacht“ und nicht zuletzt die Frage „Wohin gehen wir?“ sind Grundfragen der menschlichen Existenz, die sich jede Generation immer wieder neu stellt und auf die sie Antworten finden will. Der große Erfolg des Werkes bei seiner Uraufführung hatte sehr stark auch damit zu tun.
Gott, Religion, Schöpfung – das sind Themen, mit denen wir uns tagtäglich in den Nachrichten konfrontiert sehen. Wie erleben Sie die Auf- und Annahme des klassischen Werkes aus dem Jahre 1798 heute?
M. Zermeño: Haydn war ein religiöser Mensch, aber er war auch ein Freimaurer, wie viele andere Künstler seiner Zeit. Es ging ihm nicht allein darum, biblische Geschichte mit künstlerischen Mitteln zu illustrieren, sondern „mit staunenden Augen das Vertraute“*1) zu bearbeiten. Da sehe ich Parallelen zu uns heute. Die Evolutionstheorie und die biblische Schöpfungsgeschichte schließen sich nicht aus. Der Urknall und das „Es werde Licht“, die Trennung von Gas und Masse, die Konzentration von Energie, die Entstehung von Sternen und Planeten, von Wasser und Atmosphäre, im Wasser das erste Leben, Pflanzen, die Tieren Leben ermöglichten – zu diesen wissenschaftlichen Episoden finden wir in genauer Reihenfolge die Entsprechung in biblischen Texten. Es ist die Evolution, die zu der großen Frage führt: wer bzw. was hat Menschen geschaffen mit ihrer Fähigkeit, zu denken, Schöpfung zu gestalten und zu verändern? Und, mit welchem Impuls?
*1) James M. Keller
Der Mensch als ‚Krone der Schöpfung‘?
M. Zermeño: Ein ganz zentrales Thema aus heutiger Sicht ist für mich der Aspekt der Gleichwertigkeit der Menschen. Und natürlich auch die Frage, was der oft auch als ‚Krone der Schöpfung‘ bezeichnete Mensch mit seiner Verantwortung macht. Wie geht er mit diesem Geschenk um? Natürlich steckt darin auch eine gewisse Kritik; jedoch fernab der Idee, ein ‚Proteststück‘ aus dem Haydn‘schen Werk zu machen. Letztendlich geht es doch um die Frage an uns: „Was hinterlassen wir künftigen Generationen?“ und um den Appell an die Nachfolgenden: „Passt auf dieses Geschenk auf! Es ist so verletzlich.“
Wie stringent folgen Sie als Choreograph dem Inhalt des Oratoriums von Haydn?
M. Zermeño: Ich gebe dem Stück keine neue Fassung und verorte es nicht in Krisengebieten unserer Zeit. Das Werk soll grundsätzlich in seiner Geschichte bleiben, aber einige Blicke über das rein Religiöse hinaus entsprechen durchaus dem Bild des Komponisten, der sich als freier Geist anderen Gedanken aufgeschlossen zeigte. Das Thema ist einfach breiter angeleg
Haben Sie ein Beispiel für die interpretatorische Freiheit heute?
M. Zermeño: Der erfundene Engel Juriel (Schauspieler Juri Tetzlaff) ist der neugierige, freche Engel, der Mensch und Erde heute beobachtet. Zweifelnd fragt er sich, warum der Schöpfer das so kreiert hat … ob es nicht ein Fehler gewesen sei? Und Gott sendet ihn zum ersten Tag der Schöpfung, sodass er alles nochmal erleben und kommentieren kann. Mit dieser Idee beginnt unsere Inszenierung.
Die Herausforderung für dieses Projekt ist riesig. Sie führen 300 Mitwirkende, Profis und Amateure, in einem Projekt zusammen. Was ist das Besondere an dieser Inszenierung der ‚Schöpfung‘?
M. Zermeño: An dieser Aufführung beteiligen sich Mitwirkende aus unterschiedlichsten Lebenssituationen, Lebensbezügen und mit unterschiedlichster Lebenserfahrung. Es geht letztendlich um eine Gesellschaft, die jeden auf- und annimmt. Unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft sowie körperlicher und geistiger Voraussetzung. Alle sind Teil der Schöpfung und gemeinsam - die Schöpfung.
Die Ressourcen der Amateurtänzerinnen und –tänzer sind unterschiedlich. Sie stärken sozusagen durch Ihre Arbeit deren Stärken. Worin bestehen diese aus Ihrer Sicht?
M. Zermeño: Diese Frage berührt verschiedene Facetten auf Ebene des Individuums und der Gesellschaft. Das Tanztraining, die Erfahrung des eigenen Körpers mit seinen Begrenzungen und Begabungen verstärkt die physische Wahrnehmung eines jeden Einzelnen. Aus psychologischer Sicht fördert das Training hingegen die Sicherheit, sich zu präsentieren, das Selbstbewusstsein jedes Akteurs und den Stolz auf das, was jeder erreicht: „Ich bin da – ich bin und kann etwas.“
Und auf Ebene der Gesellschaft?
M. Zermeño: Hier verstärkt die choreografische Arbeit das Miteinander. Die Erfahrung von Gemeinschaft, dass alle wichtig sind, damit das Projekt gelingt, stärkt die soziale Komponente. Vom Training in einzelnen Gruppen, in Clustern bis hin zur großen gemeinsamen Probe vergewissern sich die Akteure, dass sie als Team ein gemeinsames Ziel haben. Und es ist dies nicht allein die gelingende Choreografie, der ‚Tanz‘, sondern die Gleichwertigkeit der Menschen.
Was genau heißt das?
M. Zermeño: Das Projekt ist ein Mittel, Veränderungen in der Gesellschaft anzustoßen. In ähnlichen Produktionen habe ich nicht selten erlebt, dass die Idee der Vernetzung der Akteure weit über die Aufführung hinausgeht. Die so unterschiedlichen Teilnehmer haben sich wahrgenommen, weil sie anders sind und haben sich darüber als gleichwertig erfahren. Freundschaften sind entstanden, man traf sich in der Freizeit wieder, erkannte sich im Sportverein oder auf Partys. Diese Erfahrung von Gemeinschaft kann Mauern einreißen, die, wie wir alle wissen, Gesellschaften spalten können mit katastrophalen Konsequenzen für die eine und auch die andere Seite.
Woran muss im Tanzprojekt derzeit noch gearbeitet werden?
M. Zermeño: Die Akteure wissen jetzt, wie die Choreografie funktioniert. Als nächstes steht an, als Künstler den Inhalt der Choreografie zu übertragen. Das heißt, sich zu präsentieren und nicht nur mit Formen sondern mit Emotionen zu spielen. Mit Blick auf die Inszenierung bedeutet der nächste Schritt, den poetischen Raum zu kreieren, also zum Beispiel Technik, Beleuchtung und Bühne in Einklang mit der Aufführung zu bringen.
Was hat Sie am meisten überrascht, was zu Beginn Ihrer Arbeit so noch nicht zu erkennen war?
M. Zermeño: Es ist der kulturelle Aspekt, der diese Generation von Schülern auszeichnet. Für die Jugendlichen ist die Popkultur das, was sie prägt und geprägt hat, verstärkt durch die modernen Medien in allen Formen. Das ist auch völlig OK. Durch das Interesse, das über das Projekt auf andere Kulturformen gelenkt wird, können wir Neugier und Offenheit gegenüber Tanz und Musik aus anderen Epochen wecken. Dadurch bekommen wir nicht zuletzt vielleicht neue Künstler, zumindest jedoch neue Zuschauer.
Was macht die Qualität von ‚Die Schöpfung – Gemeinsam neu erleben‘ aus?
M. Zermeño: Es ist die Mischung aus Musik, Dramaturgie, Geschichte, Tanz und Bühnenaktion, aus Menschen und Kultur, ein Gesamtpaket, das alle Sinne betrifft.
Haydns Werk setzte bei der Uraufführung in Wien große Emotionen bei Akteuren und Zuschauern frei, das Orchester konnte zum Teil minutenlang nicht weiterspielen. Gibt es eine Szene, die Ihnen besonders ans Herz gewachsen ist?
M. Zermeño: Natürlich ist die erste Szene sehr beeindruckend, der Moment, in dem das Licht aus dem Chaos geboren wird. Die Musik ist sehr stark ebenso wie die Visualisierung im Bühnenbild. Am meisten berührt mich jedoch, wenn die jungen Akteure das glaubhaft spielen, was der Zuschauer in der Aufführung sieht: die Elemente, das Wasser, die Tiere und vieles mehr. Dieser Entwicklungsschritt ist für mich immer wieder eine wunderbare Erfahrung.
Was wäre der dritte Wunsch, wenn Sie drei Wünsche frei hätten?
M. Zermeño: (lacht). Gute Frage! Ich würde mir Kontinuität wünschen. Dass Institutionen merken, dass all das Gute aus dem Projekt positive Auswirkungen auf die Gesellschaft als Ganzes hat, egal, ob ich weiter mit dabei bin oder nicht. Meine Arbeit ist sicher nicht ganz leicht, aber ich habe heute das gefunden, warum ich Künstler geworden bin. Es war nicht der Anspruch, das persönliche Können, die eigene Darstellungskunst immer weiter zu perfektionieren. Sondern ich habe über diesen Weg mein eigentliches Ziel gefunden, meine Erfahrungen an andere weiterzugeben und Veränderungsprozesse in der Gesellschaft mit anstoßen zu helfen.
Vielen Dank für das Gespräch.
Hintergrund
Die Schöpfung – Gemeinsam neu erleben’ ist ein Projekt der LORENZ Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Evangelischen Verein für Innere Mission in Nassau (EVIM). Es will ein Miteinander und neue Verbindungen schaffen: Zwischen Profis und Amateuren, zwischen Alt und Jung, zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen. Alle sind gemeinsam „Die Schöpfung“. Aus Haydns Oratorium wird mit Tanz und Theater eine moderne Inszenierung. Von EVIM beteiligen sich daran Mitwirkende aus allen Einrichtungen der EVIM Behindertenhilfe.
Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier hat die Schirmherrschaft übernommen.
Die Aufführungen finden statt am 8. Juli 2015 im Sendesaal des Hessischen Rundfunks und am 13. Oktober 2015 im Kurhaus Wiesbaden (Thiersch-Saal).
Mehr Infos zum Projekt, zu den Protagonisten, zur Idee, Umsetzung, Gestaltung und zu den Aufführungen und Möglichkeiten der Unterstützung unter <link http: www.gemeinsam-neu-erleben.de>www.gemeinsam-neu-erleben.de