Christian Schang (Foto) und die Kolleginnen und Kollegen der Wohngruppe Limburg, EVIM Jugendhilfe:
Die vergangenen Monate sind sicher für jeden von uns eine sehr spezielle Zeit gewesen, in der jeder Einzelne und wir als Gesamtes auf den Prüfstand gestellt wurden. Es ist schwer abzusehen, wie sich die Situation in den nächsten Wochen und Monaten entwickeln wird und welche Herausforderungen noch auf uns zukommen werden. Ich denke, ich persönlich darf mich glücklich schätzen, in diesen Zeiten nicht von Existenzängsten betroffen zu sein, oder mich in erschwerten Lebensumständen zu befinden, wie etwa viele unserer Betreuten während des Lockdowns, egal ob in einer Wohngruppe oder zu Hause mit eingeschränkter Unterstützung.
Aber gerade hier habe ich viele positive Überraschungen erlebt. Ich glaube einige von uns haben sich in dieser Zeit wenigstens einmal kurz ausgemalt, was schlimmstenfalls passieren könnte, wie die Kids und wir mit den extremen Bedingungen umgehen würden und welche Krisen und Probleme da auf uns zukommen könnten. Die Verunsicherung war bei allen spürbar, zurecht. Und trotzdem haben sich die Kinder unserer Wohngruppe mehr als bewiesen und gezeigt, wie man als Einzelperson, aber auch als Gruppe, mit einer solchen Herausforderung umgehen kann.
Der Lockdown hat dazu geführt, dass sich der Alltag sehr entschleunigte und plötzlich wieder Zeit für andere Dinge zur Verfügung stand. Es wurde mehr miteinander geredet; regelmäßig haben wir jeden Abend vollzählig zu Abend gegessen, anschließend die Tagesschau gesehen und teilweise lange noch über die neuesten Ereignisse diskutiert. Ausflüge mussten jetzt nicht mehr unbedingt viel Geld kosten, um etwas besonderes zu sein, sondern einfach nur gemeinsam unternommen werden, egal wohin. Man konnte sich bei Streitigkeiten nicht mehr, so wie sonst, aus dem Weg gehen, das Haus verlassen oder die meiste Zeit des Tages einfach draußen bleiben, um ein Gespräch zu vermeiden und sich selbst nicht erklären oder dem anderen zuhören zu müssen. Teilweise wurden Probleme aufgedeckt, die über Jahre nicht vollständig geklärt wurden und so permanent unterschwellig das Verhältnis belasteten, wodurch gegenseitig ein falscher Eindruck voneinander entstand.
Schwierig war es besonders für diejenigen, die vorher regelmäßig nach Hause fahren durften und nun für eine lange Zeit auf ihre Familien verzichten mussten. Aber auch hier haben die Kids gezeigt, dass sie als Gruppe zusammenhalten können. Man hat sich gegenseitig getröstet und einander Mut gemacht. Es wurden Pläne für die Zeit nach dem Lockdown geschmiedet und gemeinsame Vorsätze gefasst. Manchmal denke ich, dass viele Erwachsene sich ein Beispiel an der Disziplin und den Nehmerqualitäten unserer Kinder in dieser Situation nehmen können.
Für mich sind auch heute noch viele dieser Veränderungen in der Gruppe spürbar. Dennoch ist der Alltag sehr schnell wieder zurückgekehrt und hat einiges von dem, was entstanden ist, wieder genommen. Wir alle vermissen es, dass wir mehr Zeit miteinander verbringen und uns bewusster mit uns selbst und dem, was wirklich wichtig ist, beschäftigen können. Man spürt viel stärker als sonst, wie sehr äußere Einflüsse den Alltag bestimmen und zu Stress und schlechter Stimmung führen. Der Fokus hat sich verändert und für mein Gefühl ist es noch einmal deutlicher geworden, dass er unter diesen Umständen nicht immer zu einhundert Prozent auf den Kindern liegt. Wenn man bedenkt, wie viel Energie für Dinge aufgewendet werden muss, die im Interesse Dritter sind, muss man sich offen fragen, wie sehr wir selbst dafür verantwortlich sind und was wir besser machen könnten.
Ich würde mir wünschen, dass uns ein zweiter Lockdown erspart bleibt, auch wenn ich dieser Zeit die ein oder andere positive Erfahrung für unsere Gruppe abgewinnen konnte.
(25. September 2020)