Im März berichtet Zhadan davon, dass in Charkiw die Schneekappen von den Dächern fallen und der Frühling in der Metropole im Osten der Ukraine ist, aber eben auch der Krieg. Im April beobachtet er, dass im Zentrum der Stadt nun sogar Wolf und Waschbär in ihren Zoogehegen unter Raketenbeschuss geraten. Im Juni meldet sich fast jeden Tag ein Freund oder Bekannter zurück in Charkiw, doch einige Tage später notiert Zhadan: „Der Abend wird kommen und abends kommen die Einschläge“. So unterschiedlich die Eindrücke des Autors sind, den es am Tag des russischen Einmarschs in seine Heimatstadt gezogen hat, so häufig wiederholt sich sein Fazit. Zunächst ist es Zhadan darin wichtig zu betonen, dass die Ukraine noch Herr im Hause ist. Viele Einträge enden mit dem Satz: „Über der Stadt wehen unsere Flaggen“. Später verweist er mehrfach darauf, dass die Ukraine am nächsten Morgen dem Sieg wieder einen Tag näher ist.
Zwei Leben
So oft verwendet er diese Formulierungen, dass sogar Gäste, die des Ukrainischen nicht mächtig sind, sie schon bald ebenfalls in den Passagen entdecken können, die Hanna Ostapenko in ihrer Heimatsprache vorträgt. Die Lehrerin aus Kiew hat sie direkt aus den Facebook-Einträgen des diesjährigen Preisträgers des Friedenspreises des deutschen Buchhandels übernommen, denn im Original sind sie bislang noch nicht in gedruckter Form erschienen. Anders als die deutsche Übersetzung, aus der Dr. Andreas Lukas genauso gefühlvoll und lebhaft vorträgt, wie Ostapenko. „Wir Ukrainer haben zwei Leben, tagsüber arbeiten wir daran, uns zu integrieren und die Sprache zu lernen. Danach versuchen wir herauszufinden, wie es unseren Freunden und Familien geht“, erläutert die vierfache Mutter in englischer Sprache. Sie hat auch eine einfache Erklärung dafür, warum Zhadan bislang keine Zeit hatte, seine Beobachtungen als Buch zu veröffentlichen. „Er hat Autos organisiert, die dringend benötigt werden, um Verletzte zu transportieren“, erklärt Ostapenko.
Musik grenzenlos
Die aktuelle Situation in Charkiw kennt Wenceslav Schlaghof bestens, weil er mit seinen Freunden dort in Kontakt steht. „Sie haben keinen Strom, keine Heizung, kein warmes Wasser. Das ist eine sehr schwere Situation für den Winter“, berichtet der ehemalige Konzertmeister des Philharmonie Orchesters Charkiw. Dennoch hat er für die musikalische Gestaltung nicht nur Stücke von ukrainischen Komponisten wie die Elegie von Mykola Lysenko oder Melody von Myroslaw Skoryk ausgewählt. Gemeinsam mit Pianistin Lei Wang begeistert der Geiger auch mit der temperamentvollen Darbietung von Modest Mussorgsky Version des ukrainischen Volkstanzes Hopak. Diese stammt aus einer Oper, die Mussorgsky dem berühmten Jahrmarkt in Sorotschinzy gewidmet hat, das rund 200 Kilometer westlich von Charkiw liegt. „Politik und Kultur muss nicht vermischt werden“, findet Schlaghof.
Neue Koordinierungsstelle hilft
Seit März lebt der Musiker nun in Wiesbaden, wo er zunächst bei einer Familie untergekommen ist, bevor er eine eigene Wohnung bezogen hat. So wie viele seiner Landsleute. „Ganz viele Leute haben ihre Wohnungen geöffnet. Ich habe mir sagen lassen, dass vieles auch schon in Mietverhältnisse überführt worden ist“, berichtet Anja van der Horst von der Koordinierungsstelle für Wohnraum-gebende Ein Zuhause in Wiesbaden. Das seit dem Sommer bestehende EVIM Angebot ist eine klassische Verweisberatung, in der bei den eingehenden Fragen die richtigen Ansprechpartner vermittelt werden. „Die Anfragen sind ganz unterschiedlich. Manche Wohnraum-gebende wollen wissen, wie sie den Behörden gegenüber eine Mietkostenabrechnung leisten können. Dafür reicht ein plausibler Nachweis, dass eine drei- bis vierköpfige Familie einen bestimmten Betrag an Kosten verursacht“, erläutert van der Horst. Aus manchen Mietverhältnissen entwickelten sich auch Patenschaften.
Paten gesucht
Dafür ist bei EVIM in der Hauptsache das Patenprogramm Be welcome zuständig, das seit dem Jahr 2015 existiert. „Wir haben nach wie vor großes Interesse von Geflüchteten, die gerne Paten hätten“, berichtet Dr. Karin Falkenstein, die die Lesung gemeinsam mit Olha Novytska moderiert. Aktuell beständen gut 60 Patenschaften, aus denen sich inzwischen teils Freundschaften entwickelt haben. Bis zu 30 Interessierte warteten derzeit aber noch auf eine Patenschaft. Voraussetzungen für potenzielle Paten sei Offenheit für fremde Kulturen, ein bis zwei Stunden freie Zeit pro Woche und Kenntnisse in einer Sprache wie Englisch, in der man sich miteinander verständigen kann. (Text und Fotos: Hendrik Jung)
Kontakt Koordinationsstelle Zuhaus in Wiesbaden: E-Mail: anja.vanderhorst@evim.de, T 0611 17217014