Emotionale Verständigung funktioniert ganz ohne Worte. Dies stellten Bewohner der Hattersheimer EVIM Wohnanlagen und Besucher aus Frankreich während eines gemeinsamen Programms fest. Die Dolmetscherin, die den einwöchigen Austausch begleitete, sei fast nicht nötig gewesen, berichtet Nils Bayer, Einrichtungsleiter des Wohnverbunds Hattersheim. Die Teilnehmer mit geistiger Beeinträchtigung hätten sich hervorragend verstanden, weil sie nicht nur auf der verbalen Ebene kommunizierten, sondern vor allem Gefühle sprechen ließen. „Das passt immer“, betont Bayer. Während der sechstägigen Begegnung habe es sogar ein Deutsch-Französisches Liebespaar gegeben. „Das wird ein schwieriger Abschied“, meinte der Hattersheimer Einrichtungsleiter kurz vor der Abschlussparty am Freitag.
Die betreute Gruppe aus Frankreich hielt sich vom Montag, 12. Juni, bis zum Samstag, 17. Juni, in Hattersheim auf. Das EVIM-Team hatte ein abwechslungsreiches Programm für die zwölf Klienten und vier Begleiter aus Saint Étienne auf die Beine gestellt. Besonders gut sei eine Flughafen-Rundfahrt angekommen, erzählt die französische Betreuerin Virginie Tonnoir. Die Flugzeuge aus nächster Nähe zu erleben, beeindruckte die Gäste. Gemeinsam erkundeten Hattersheimer und Franzosen weitere Sehenswürdigkeiten der Region: Eine Rheinschifffahrt sowie die Besichtigung der Frankfurter Altstadt samt Römer standen auf dem Programm. In Hattersheim besuchten die Austauschpartner das Medizinische Zentrum für Erwachsene mit geistiger Behinderung (MZEB). Dabei wurde auch ein fachlicher Austausch ins Auge gefasst. Neuropsychologen aus Hattersheim sollen sich künftig mit Kollegen in Frankreich beraten, erläutert Nils Bayer.
Das Arbeitsumfeld der Hattersheimer Teilnehmer stand bei einer Begehung der EVIM-Werkstätten im Mittelpunkt. Die Gruppe lernte, dass sich dieses Angebot stark von Land zu Land unterscheidet. Im Rahmen eines Workshops tauschten sich Deutsche und Franzosen über Unterschiede im Lebensalltag von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung aus. Dabei stellten sie fest, dass es in Deutschland ein Recht gibt, in einer Tagesstätte betreut zu werden und zu arbeiten. In Frankreich ist die Beschäftigung anders geregelt. Nur einer der Besucher gehe arbeiten, erklärt Nils Bayer. Im Nachbarland sei es nämlich so, dass nur Menschen Geld verdienen können, die in der Lage sind, im normalen Berufsleben mitzuwirken. Arbeit sei dort sehr leistungsorientiert. Für die meisten Menschen mit Einschränkung gebe es stattdessen Sportaktivitäten, die tagsüber angeboten werden. Virginie Tonnoir hat den Eindruck, dass einige ihrer Klienten gerne arbeiten würden. Die Betreuerin aus Saint Etienne schätzt, dass von 35 Personen in ihrer Einrichtung 20 in der Lage wären, zu arbeiten.
Als krönender Abschluss des Austauschs stand am letzten Tag eine Motorrad-Ausfahrt auf dem Programm. Frank Goebel, Rainer Jäger, Michael Koch und Bernhard Rauch vom Harley Davidson Chapter Wiesbaden-Nassau fuhren mit ihren Maschinen an der EVIM-Wohnanlage vor. Hattersheimer und Franzosen schwangen sich mit strahlenden Gesichtern auf die Ledersitze hinter die Biker. Die kurzen Fahrten entlang der Schulstraße hätten für viele ihrer Klienten den Höhepunkt der zahlreichen Aktionen dargestellt, sagt Virginie Tonnoir. Nach einer Woche Programm seien nun alle „sehr müde, aber glücklich“. Die Energie wird jedoch schon bald wieder zurückkehren – dann wollen Hattersheimer und Franzosen ihren Austausch fortsetzen. Die Gruppen planen einen gemeinsamen Urlaub, für den sie sich auf halber Strecke treffen wollen. (sk)