Als Stavros Konstantinidis vor drei Jahren zu Mal_anders kam, malte er mit bunten Filzstiften unzählige Rechtecke und Quadrate auf die Leinwand. Bilder, die zu bersten schienen. Monika Niebergall erkannte das Talent, das sich hinter diesen Bildern verbarg. Mit ihrer jahrzehntelangen Erfahrung als Fördererin von künstlerisch Begabten unterstützt und begleitet sie Konstantinidis in seinem Schaffensprozess. Er lernte die Bilder zu strukturieren, Farbe und Form in einen Klang zu bringen. Das Ergebnis ist grandios und eines von 13 Bildern, die seit gestern in der Caligari Filmbühne Wiesbaden im Rahmen des Inklusiven Filmfestivals "No Limits" zu sehen sind. "No Limits" ist eine Veranstaltung des Kulturamtes der Landeshauptstadt Wiesbaden in Kooperation mit der Lebenshilfe Wiesbaden e.V. und der EVIM Gemeinnützige Behindertenhilfe GmbH. Das Festival wird durch den Kulturfonds Frankfurt RheinMain unterstützt.
Die unbedingt sehenswerte Ausstellung begeistert nicht allein durch die künstlerische Präsenz und die Professionalität der Werke. Sie eröffnet ‚ganz ungewöhnliche Blickweisen‘ auf die Motive, aus denen eigenes Empfinden und Erleben der Protagonisten spricht, wie Rose-Lore Scholz, Dezernentin für Schule, Kultur und Integration, anlässlich der Vernissage sagte. „Es ist die Kraft des Willens, die anspricht und die den Blick magisch anzieht“, bekannte die Wiesbadener Künstlerin Monika Niebergall, die gemeinsam mit ihrem Mann die Art-Brut Künstlerinnen und Künstler von Mal_anders begleitet. Seit 15 Jahren ist das Kunstprojekt der EVIM Behindertenhilfe auf Erfolgskurs, zahlreiche Ausstellungen regional und überregional trugen mit dazu bei, Art-Brut-Kunst in der Öffentlichkeit bekannt zu machen und die Akzeptanz dieser Kunst im etablierten Kunstbetrieb zu fördern. ‚Mit Leidenschaft‘ arbeitet Monika Niebergall an dem Projekt, mit Herzblut begleitet sie die Talente, kennt deren Stärken und Schwächen, kennt ihr Auf und Ab. Jeder eine Persönlichkeit. Fatou Yassy Touray, deren Heimatland Gambia ist, beschäftigt sich hauptsächlich mit Selbstportraits, die durch eine expressive Farbgebung auffallen. Maria Arelaki, die junge ‚Wilde‘, wie Monika Niebergall sie mit einem Schmunzeln vorstellt, ist in ihrem Schaffen ständig auf der Suche und überaus experimentierfreudig. Oder das Ausnahmetalent Heidi Lose. Die gehörlose Künstlerin ist von Beginn an dabei und schuf ein Œuvre, das eine unglaubliche Begabung sichtbar macht. Kernthema ihrer Arbeit ist ihre Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen, immer wieder malt sie mit sicherer Hand, behutsam künstlerisch begleitet, Frauenportraits – kühn, selbstbewusst, eindringlich. In ihren jüngsten Werken rückt das Thema ‚Sehen‘ stärker in den Mittelpunkt. Begründet ist dieser Wandel durch einen voranschreitenden Verlust ihrer Sehkraft, der zur Erblindung des rechten Auges führte. Künstlerischen Ausdruck findet diese Auseinandersetzung in einem Bild wie ‚Das Auge‘. In schwarz-weiß gemalt bestimmt es die gesamte Bildfläche auf der Leinwand. Kein anderes Detail lenkt von dem ab, was die erblindende Künstlerin an Inhalt transportiert. Sehen ist malen und sein! Daneben ein Leuchter in Nuancen von Weiß und Grau gemalt. Licht und sehen. In ihren Themen lässt sich Heidi Lose von Motiven auf Kunstpostkarten und aus Illustrierten inspirieren. Mit sicherer Hand wählt sie aus, was in Kongruenz steht zu dem, was sie in ihrem Inneren beschäftigt und nach außen drängt.
Jutta Schubert von EUCREA, dem Verband zur Förderung der Kunst behinderter Menschen im deutschsprachigen Raum, stellte zu Recht in ihrer Laudatio voran: „Die Werke der Outsider-Kunst (wie Art-Brut auch genannt wird d.R.) sind aus der heutigen Kunstszene nicht mehr wegzudenken.“ Der Weg dahin war mit Widerständen gesät, die es zu überstehen und zu überwinden galt. Wahrgenommen zunächst als ‚Kunst von Geisteskranken‘ endete abrupt der Diskurs durch die Herrschaft der Nationalsozialisten, die die Werke als ‚Entartete Kunst‘ diffamierten. Die kulturelle Anerkennung von Art-Brut in den Jahrzehnten nach dem Krieg beförderten unterschiedliche gesellschaftliche Prozesse. Dazu gehören auch die kunsttheoretischen Anschauungen von Jean Dubuffet zu Art-Brut oder die bahnbrechende Arbeit künstlerischer Projekte wie das Künstlerhaus Gugging bei Wien. Für die Akzeptanz von Art-Brut in der Kunst gelten indes dieselben Kriterien, wie für jedes künstlerische Werk, so Jutta Schubert: Es setzt voraus, dass eine überzeugende Form für einen relevanten Inhalt gefunden wird.
Die kleine, kostbare Ausstellung in der Filmbühne Caligari ist in diesem Sinn ein Beispiel für den Erfolg von Art-Brut. Man wünscht ihr eine große Resonanz, die auch durch die heutige Eröffnung des Inklusiven Filmfestivals in Wiesbaden viel Aufmerksamkeit und Be(tr)achtung erfahren wird.