(evim) Beruflich Reisenden wie Schausteller- und Zirkusfamilien hat die Coronakrise buchstäblich den Boden unter den Füßen weggezogen. Seit einem Jahr stecken sie fest, auf verwaisten Campingplätzen oder privaten Wiesen mit ihren Wägen, Tieren, Zelten und im Familienverbund, dessen Lebensweise so ganz anders ist als in der Nachbarschaft. „Etwa sechzig Prozent der Familien, zu denen wir Kontakt haben, leben von der Hand in den Mund“, weiß Carlos Müller, Geschäftsführer des Arbeitsfeldes Bildung des Evangelischen Vereins für Innere Mission in Nassau (EVIM). Im Auftrag des Hessischen Kultusministeriums beschult sein Team die Kinder beruflich Reisender seit fast einem Jahrzehnt. Mit Lernmobilen - das sind Fahrzeuge, die als rollende Klassenzimmer ausgestattet sind - fahren die Fachkräfte von EVIM hessenweit dorthin, wo sich die Reisenden beruflich aufhalten und unterrichten deren Nachwuchs.
Coronabedingt sei die Situation dieser Familien richtig schwer geworden, beklagt Müller. Besonders für die Kinder im Kita-Alter. Sie hätten fast keine Kontakte außerhalb ihrer Familie, beobachteten die Pädagogen. „Die Kinder wollten mit zum Unterricht ins Lernmobil kommen, weil wir die einzige Abwechslung für sie waren“, so Thomas Schulze, Fachberater im Bereich Kindertagesstätten des Trägers. Aus dieser Not heraus suchten sie nach einer Lösung und kamen auf die Idee eines mobilen vorschulischen Angebotes, um diese Kinder zu betreuen.
„Am Anfang waren wir unsicher, ob die Eltern das überhaupt annehmen würden“, so Schulze und fügt hinzu, „doch dann war die Resonanz so groß, dass wir sogar die geplante Bedarfsanalyse fallengelassen haben.“ Insgesamt sechzehn Jungen und Mädchen im Alter von drei bis sechs Jahren wurden angemeldet. Der Austausch mit der Schule für Kinder beruflich Reisender habe einen guten und schnellen Projekteinstieg ermöglicht. Grundlage für die mobile vorschulische Arbeit ist der Hessische Bildungs- und Erziehungsplan. Die Finanzierung erfolgt mit Geldern des Hessischen Sozialministeriums, der Diakonie Deutschland aus Mitteln der Glücksspirale und Eigenmitteln der EVIM Bildung gGmbH, sodass das Angebot für die Familien kostenfrei ist.
Im September wurde das Team zusammengestellt. Dazu gehören Thomas Schulze, der selbst mehrere Jahre eine Kita des Trägers geleitet hatte, Sozialarbeiterin Theresa Saup und Jana Roth, die soziale Arbeit studiert. In einem roten Skoda älterer Bauart fahren sie, manchmal zu zweit und meist allein, die Plätze an darunter in Frankfurt, Ginsheim-Gustavsburg, Hadamar und Schlitz. Im Kofferraum liegen die Materialien für frühkindliche Bildung und Erziehung, Bastelutensilien und vieles mehr. Der Betreuungsbedarf der Kinder sei unterschiedlich, so Schulze. Die meisten brauchen eine gezielte Förderung in ihrer sprachlichen Entwicklung und im Bereich der Feinmotorik. „Beim Laufen und Klettern sind sie superfit“, berichtet der Fachexperte.
Beeindruckt ist Thomas Schulze vom Bemühen der Eltern, in der schwierigen Situation zurecht zu kommen und ihren Kindern vieles zu ermöglichen. Dabei unterstützt das Team die Familien nach Kräften, zum Beispiel im Umgang mit den Behörden, bei der Organisation von Vorsorgeterminen und Zahnarztterminen. So nahm Schulze Kontakt zu Logopädiepraxen auf. Nach zahlreichen Telefonaten hatte er in Landsberg am Lech Glück. Dort fand er die Praxis Labryga, die Online-Sprachtherapie anbietet. Nach Rücksprache mit den Krankenkassen und deren Zusage bei der Kostenübernahme fehlt es derzeit noch an digitalen Endgeräten für diesen Zweck.
Dankbar ist er auch für das Vertrauen, das dem Team entgegengebracht wird. „Die Familien begegnen uns mit einer unglaublichen Offenheit und Gastfreundlichkeit“, sagt Schulze mit großem Respekt und Anerkennung.
Ein Video, das die Erzieherinnen Ende Januar drehten, bietet Einblick in ihren Arbeitsalltag: Rechnen, ausschneiden, Bilderbuch anschauen und sprechen – all das spielt sich derzeit parallel am Küchentisch der beruflich Reisenden ab. „Wenn immer das Wetter es zulässt, betreuen wir die Kinder draußen“, so Schulze. Das Team setzt auf klare Regeln und Vereinbarungen, um sich und die Familien vor dem Corona-Virus zu schützen. Die Situation sei nicht einfach. Sanitäre Anlagen in der Umgebung sind geschlossen oder kaum nutzbar, bei Regen und Schnee verwandelt sich der Platz in Morast. Für das Raumproblem gibt es in Kürze eine Lösung. Dann nutzt das Team zwei ältere Lernmobile der Schule für Kinder beruflich Reisender. „Damit werden wir eigene Räume haben. Das erleichtert unsere Arbeit besonders unter Corona-Bedingungen erheblich“, freut sich Thomas Schulze. „Wir sind dann eine richtige mobile Kita.“
Für die Zeit nach Corona gibt es auch schon Pläne: ein gemeinsames Sommerfest mit allen Kindern und ihren Familien. „Die Kinder haben Lust darauf, sich mit anderen zu treffen“, berichtet Schulze, denn die Familien kennen sich untereinander oft nicht. (hk)
Foto (EVIM): Kita-Angebot im Zirkuswagen in Egelsbach. Jana Roth betreut die Kinder mit vorschulischen Aktivitäten.