Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gingen unter anderem der Frage nach, was zu dieser Entwicklung geführt hat, inwieweit die bestehenden Hilfen darauf vorbereitet oder neue Formen der Angebote und Kooperationen erforderlich sind. „Wohin gehen junge Menschen ohne Unterstützung ihrer Familie, wenn Schule und Beruf keine Perspektive sind und wie können wir sie stabilisieren?“ Mit dieser Frage beschrieb Simone Wittek-Steinau von der EVIM Jugendhilfe Wiesbaden aktuelle Herausforderungen, auf die die Tagungsteilnehmer im interdisziplinären Austausch Lösungsansätze diskutierten. Beim Pressegespräch im Rahmen des Fachtages äußerten sich die Veranstalter zur Situation vor Ort.
EVIM Jugendhilfe bietet mit dem vollumfänglich spendenfinanzierten Projekt upstairs ein niedrigschwelliges Hilfe- und Unterstützungsangebot für junge Menschen in Not an. „Wir verzeichnen relativ konstant etwa 700 Übernachtungen pro Jahr“, sagt Simone Wittek-Steinau, wobei die Befürchtung besteht, dass dieser Bedarf steigen wird. Eine wichtige Ursache dafür sieht Agim Kaptelli in der angespannten Situation auf dem Wohnungsmarkt. „Belastete Familiensysteme zerbröseln durch diesen Druck immer weiter“, beobachtet der Leiter des Diakonischen Werkes Wiesbaden. Der Träger hält Angebote für volljährige wohnungs- und obdachlose Menschen bereit, darunter das stationäre Übergangswohnheim in Erbenheim. Seit einigen Jahren rückt nach Aussage von Agim Kaptelli die Gruppe der jungen Wohnungs- und Obdachlosen stärker in den Blick, die andere Bedürfnisse haben als das klassische Klientel. Daher wurde das Konzept verändert und für junge Erwachsene bis 28 Jahren eine eigene Abteilung mit fünf Plätzen innerhalb des Wohnheims geschaffen. Bei dieser Zielgruppe spielen insbesondere Themen wie Schule, Arbeit und Familienarbeit eine wichtige Rolle. Eine ähnliche Entwicklung sieht auch Tanja Scherer, die in Mainz für die Wohnungslosenhilfe der Mission Leben zuständig ist. „Mittlerweile nehmen deutlich mehr jüngere Menschen den Kontakt zu uns auf, die aus der Jugendhilfe kommen.“ Diese Jugendlichen erfordern viel Geduld und Feinfühligkeit im Umgang, denn sie haben ein verstörendes Verhalten und bringen zugleich eine große Sehnsucht nach tragfähigen Beziehungen mit. Daher sei Personalkontinuität von besonderer Bedeutung. Dies betonte auch Sarah Beierle, die die Studie des Deutschen Jugendinstitutes auf dem Fachtag vorstellte: „Das Schlimmste, was den Jugendlichen passieren kann, ist, dass im Projekt die Mitarbeiter nicht mehr da sind.“ Daher müssen Hilfeangebote wie zum Beispiel upstairs langfristig gesichert sein.
Eine weitere Herausforderung sieht Kaptelli darin, die Rechtskreise der SGB II, VIII und XII zu verbinden. „Wir sind aufgefordert, diese Hilfen so zusammenzubringen, dass sie passgenau sind.“ Angesichts der neuen Herausforderungen gewinnt die Vernetzung der Hilfesysteme immens an Bedeutung. Man habe ein sehr gut ausgebautes Netz, um an die Jugendlichen anzudocken. Jetzt kommt es darauf an, die Hilfen zu verstetigen, um Angebote zu vernetzen und Konzepte kreativ weiterzuentwickeln. Für Tanja Scherer aus Mainz wäre das zum Beispiel eine Notschlafstelle für junge Erwachsene, die sofort und unbürokratisch einen Schlafplatz anbieten könne. Das sei in der Wohnungslosenhilfe jedoch aus rechtlichen Gründen nicht möglich, da im konkreten Fall zunächst ein Antrag auf ein Bett gestellt werden muss. Umso wichtiger sei es daher, dass die bestehenden Hilfesysteme, Angebote und Einrichtungen noch enger zusammenarbeiten, um unbürokratisch und sofort Hilfe zu leisten.
Foto (EVIM): Agim Kaptelli, Simone Wittek-Steinau und Tanja Scherer (v.l.n.r.) wollen eine stärkere Vernetzung und innovative Konzepte, um passgenaue Hilfen anzubieten.
Sarah Beierle vom Deutschen Jugendinstitut stellte zum Auftakt der Veranstaltung quantitative Erhebungen zu Straßenjugendlichen und ermittelte Hilfebedarfe vor. Während die Zahl der betroffenen 14- bis 17-jährigen mit etwa 6.200 noch relativ gering ist, steigt die Zahl bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen sprunghaft an: 12.600 Betroffene sind zwischen 18 und 20 Jahre alt, 11.700 sind 21 bis 24 Jahre alt. Ein Drittel der Betroffenen ist weiblich. Beierle stellte auch fest, dass wohnungslose Jugendliche kein ausschließliches städtisches Problem sind. Die Fachexpertin sieht die größte Herausforderung für Fachkräfte in der fehlenden Teilnahmekontinuität der Jugendlichen. Das liegt nach ihren Worten unter anderem mit daran, dass vorhandene Angebote nicht ausreichen, die Angebote befristet sind oder zu viel gefordert, statt gefördert wird. Auch die fehlende politische Anerkennung von Jugendarbeit ist ein Faktor, der hier mit eine Rolle spielt.