Aus dem kleinen Lautsprecher erklingt „Du bist die Ruh“ von Franz Schubert. Dietrich Fischer-Dieskau singt. Der alte Herr im Bett bewegt die Hände und dirigiert mit. „Das ist für mich wie Medizin, ein richtiges Lebenselixier“, sagt er. Kerstin Kronenberger-Schäfer lächelt. Sie weiß, was dem Bewohner gefällt. Vorher hat sie ihm noch ein ganz anderes Lied vorgespielt: „Rondo Alla Turca“, das temperamentvolle Klavierstück von Mozart. Auch das ein Favorit, „das kleine Geklimper“, wie Herr K. sagt. „Es bringt einen in Schwung.“ Und dann erzählt er von seiner Heimatstadt Bad Kissingen, was eigentlich nichts mit der Musik zu tun hat – außer, dass er dort früher auch Konzerte besucht hat. Kerstin Kronenberger-Schäfer hört zu, fragt nach, verspricht, nächsten Dienstag wiederzukommen. Das steht auch auf dem kleinen Zettel, der bei Herrn K. über dem Bett klebt. „Dienstag Musik“. „Das ist der Zettel der Vorfreude, hat er mir mal gesagt“, sagt die Musiktherapeutin, die einmal pro Woche ihren Besuch bei Bewohnern und Bewohnerinnen im Biebricher Katharinenstift macht.
Rituale zur Musikzeit
Ungefähr seit zwei Jahren sei sie hier, berichtet die ausgebildete Musiktherapeutin und Musikgeragogin. Auch in anderen Einrichtungen arbeitet sie auf ähnliche Weise: Sie besucht für ungefähr 20 Minuten einzelne Menschen auf ihren Zimmern und lässt sie jeweils das erleben, was für sie an diesem Tag passt. Auch Gruppenarbeit macht sie, dies aber nicht im Katharinenstift. Dort leben sehr viele demenziell Erkrankte, die jeder und jede für sich besondere Aufmerksamkeit benötigen. Sie liegen im Bett, sie sitzen im Rollstuhl, sie können auf eigenen Beinen laufen oder werden ganz langsam am Rollator zum Klavier geführt. Kerstin Kronenberger-Schäfer ist auf alles eingestellt, „planen lässt sich da wenig“, sagt sie. Das Haus empfehle ihr Besuche bei bestimmten Bewohnerinnen und Bewohnern, aber es kommt auch immer auf deren Tagesform an. Doch natürlich sind Bewohner und Bewohnerinnen dabei, die regelmäßig in den Genuss kommen.
Musik mit der Handtrommel
Und ein Genuss scheint es augenscheinlich für alle zu sein. Die erste an diesem Dienstag ist Frau B., die es liebt, mit der Therapeutin zu alten Schlagern wie dem „Itsy Bitsy Teenie Weenie Honolulu Strandbikini“ in ihrem Zimmer zu tanzen. Das Lächeln der anfangs noch sehr ernst dreinschauenden Frau wird immer angeregter. „Sie werden gesehen, sie können sein, wie sie sind – oder wie sie mal waren – oder wie sie gerne gewesen wären“, sagt Kronenberger-Schäfer über ihre Klientinnen und verabschiedet sich von Frau B. mit einer Umarmung, „bis nächste Woche!“ Die nächste ist Frau K., sie sitzt im Rollstuhl. Die Musiktherapeutin schaut, ob schon gefrühstückt wurde, holt die Leute ins Zimmer, wenn sie das möchten oder kommt später wieder. Bei Frau K. passt es gerade. Sie erhält eine kleine Handtrommel, auf die sie sehr schön im Takt zur Musik – „Ich wollt‘, ich wär ein Huhn“, klopft. „Dieses Lied eröffnet immer die Musikzeit – ein Ritual“, sagt Kerstin Kronenberger-Schäfer. Und Frau K. singt mit: „Ich legte jeden Tag ein Ei und sonntags auch mal zwei oder drei!“ Sie erzählt aus ihrer Kindheit, „ich war immer ein quirliger Geist, sagte meine Mutter“. Hier dürfe sie so sein, entgegnet die Musiktherapeutin. Immer lebhafter rollt Frau K. ihren Rollstuhl vorwärts und rückwärts, trommelt und singt. „Das entlastet richtig“, sagt sie am Schluss. Und freut sich auch schon auf den nächsten Dienstag.
Musik kann Lebensqualität verbessern
Ein paar Stockwerke höher wartet Frau S. mit einer Ehrenamtlichen. Sie ist nicht gut orientiert. Aber als sie sich mit Kerstin Kronenberger-Schäfer ans Klavier setzt, sieht man richtig, wie der Lebensgeist ein bisschen erwacht. „Sie spielte früher Klavier“, sagt die Musiktherapeutin. Sie spricht kaum, aber Frau S. lacht, als Kerstin Kronenberger-Schäfer ihr etwas vorsingt und mit ihr gemeinsam den „Flohwalzer“ spielt. Dass diese wenigen Minuten viel bringen, einen nachhaltigen Effekt haben, ist zu spüren. Und dass die Musiktherapeutin sehr persönlich auf alle eingehen kann, ob sie nun Musik mit ihnen hört, singt, tanzt oder auf Instrumenten spielt.
„Es gibt auch eine Dame, die die Rolling Stones, Queen oder The Cure hören will“, sagt sie – Beleg dafür, dass hier nicht der vermeintliche „Seniorengeschmack“ über einen Kamm geschoren wird. „Ich empfehle sowieso jedem, eine Liste mit Lieblingsmusik zu machen, solange man das noch selbst kann: Dann kann man später einmal darauf eingehen“. Ein guter Tipp! Doch generell ist festzustellen: Musiktherapie ist ein Beitrag zu einem ganzheitlichen Pflegeansatz, verbessert das Wohlbefinden, weckt Ausdrucksmöglichkeiten und schafft Lebensqualität.
Glücksmomente erleben
Der fachliche Ansatz der Geragogik ist genau auf die Zielgruppe zugeschnitten, verknüpft Musik mit biographischer Arbeit „Mein Ziel ist es, durch gemeinsames musikalisches Erleben und Gestalten Erinnerungen zu wecken, vorhandene Fähigkeiten zu entdecken, Ressourcen zu aktivieren, Kommunikationsmöglichkeiten zu schaffen, Gefühle auszudrücken und die Neugier zu wecken“, beschreibt Frau Kronenberger-Schäfer ihr Anliegen. Sie habe selbst ganz viel davon, „ich habe genau das gefunden, was ich machen will.“ Mit ihrer offenen, zugänglichen und zupackenden Art kann sie alle, auch die vermeintlich Verschlossenen, Verwirrten oder Abweisenden, auf ihre Seite ziehen und ihnen ein Erlebnis verschaffen. „Und wenn mal einer tatsächlich nicht will, dann geht das bestimmt am nächsten Dienstag“, sagt die Musiktherapeutin. „Glücksmomente, Wohlbefinden und Fröhlichkeit“ – das sind ihre Ziele. Herr K., Frau K., Frau S. und Frau B. haben an diesem Tag gezeigt: Es klappt. (abp)