Das Atelier von Mal_anders in der Pfitznerstraße leuchtet hell wie ein Stern an diesem neblig-kalten Dezemberabend in Wiesbaden. Die breite Glasfront ermöglicht einen Blick ins Innere: Dort malen die Art-Brut Künstlerinnen und Künstler, die seit März von Artjom Chepovetskyy angeleitet werden.
Der 32-jährige Absolvent der Akademie der Bildenden Künste Mainz folgt auf Monika Niebergall. Sie hatte mit ihrem Mann das Kunstprojekt mehr als anderthalb Jahrzehnte mit großem Erfolg begleitet und sich Anfang des Jahres aus gesundheitlichen Gründen davon verabschieden müssen. Auf das Kunstprojekt der EVIM Behindertenhilfe wurde Chepovetskyy über einen mit ihm befreundeten Mitarbeiter der Geschäftsstelle aufmerksam. Der gebürtige Ukrainer freute sich über das große Interesse von Seiten der Geschäftsführung und das Angebot, die Gruppe zu übernehmen. Für ihn ist es eine ganz wunderbare Aufgabe und eine große Bereicherung, die Malerinnen und Maler in ihrem künstlerischen Schaffen zu unterstützen mit dem Ziel, ihnen „viel Freiraum zu geben und sie zum Experimentieren zu ermutigen.“ Immer wieder stellt er sich daher der Frage, wie er jedem einzelnen kleine Ausflüge in eine neue künstlerische Richtung ermöglichen kann, um die kreativen Potenziale in der heterogenen Gruppe noch besser freisetzen zu können.
Wie im Farbenrausch
Das möchte er mit völlig neuen Themen oder der neuen Umsetzung bewährter Themen erreichen, zum Beispiel wie bei Fatou-Jarra Jassy-Touray. Die talentierte junge Frau stammt aus Gambia und ist seit fünf Jahren bei Mal_anders. Gerne malt sie expressive Selbstbildnisse in leuchtenden Farben. Die Bildaufteilung fällt ihr leicht. Mit sicherer Hand wählt sie die Farben aus. Übermalt sie Schicht für Schicht. Das alles völlig selbstständig, souverän. Chepovetskyy beobachtet: „Sie ist noch spielerischer, provokanter im Umgang mit Farben geworden.“ Begeistert präsentiert er ihre neuen Arbeiten, auf denen - wie im Farbenrausch gemalt - Palmen und Pflanzenmotive zu sehen sind. Neben ihr arbeitet Ralf Ullrich an einem abstrakten Werk. Chepovetskyy motiviert ihn: „Sei experimenteller, mit Power!“ Mit nur wenigen Pinselstrichen erläutert er ihm die Wechselwirkung von Fläche und Farbe. Ullrich hört aufmerksam zu, nickt. Momente später teilt er selbst Flächen neu auf und erzeugt mit neuen Farbkontrasten Spannung in seinem Bild. Chepovetskyy erinnert sich schmunzelnd an die erste Malstunde. Ullrich habe aus Angst vor einer Allergie zunächst nicht mit Farben arbeiten wollen. Daraufhin ermunterte er ihn, seine Allergie doch einmal zu malen. Diese Brücke habe funktioniert, freut sich der künstlerische Leiter noch heute, dass der talentierte Ralf Ullrich darüber den Weg zur abstrakten Malerei gefunden habe. Einen künstlerischen „Durchbruch“ habe auch Jenny Martin erreicht, die ebenfalls neu bei Mal_anders ist. Aus den ersten unsicheren Pinselstrichen wurde schon nach wenigen Monaten eine gegenständliche Malerei. Sie habe sich sehr schnell weiterentwickelt, lobt Chepovetskyy. Zurzeit malt sie an dem Bildnis eines Boxers. „Wie ich in Action“, sagt sie mit Nachdruck und berichtet über ihre Taekwondo-Erfahrungen. Jenny Martin ist oft noch unsicher, wie sie weiter malen soll. Da ist Geduld gefragt. Chepovetskyy, der auch Philosophie im Lehramt an der Gutenberg-Universität studiert hat, scheint das nichts auszumachen; ruhig und entspannt nimmt er sich für sie und die anderen Zeit. Die Atmosphäre im Atelier ist kreativ-anregend; ausnahmslos alle sieben Künstlerinnen und Künstler arbeiten an diesem Abend über lange Strecken hochkonzentriert. Im Hintergrund erklingt leise „Summertime“ in der Version von Louis Armstrong. „Ohne Musik kann ich nicht arbeiten“, bekennt der junge Mann, der als 18-jähriger mit seiner Familie nach Deutschland kam.
Vernissage im thalhaus geplant
Einige Bilder, die hier entstehen, werden Teil der Ausstellung von Mal_anders sein, die Ende Januar 2017 im thalhaus Wiesbaden eröffnet wird. Chepovetskyy ist gespannt auf diese Möglichkeit, neue Akzente der Wiesbadener EVIM Art-Brut-Gruppe in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Öffentlichkeitsarbeit ist ihm ein ganz wichtiges Anliegen. Dafür hat er schon Ideen, die er gerne umsetzen möchte: ein Internetauftritt und Kataloge zu den einzelnen Künstlern. Damit sei es leichter, das Interesse der Galerien zu wecken: „Man malt doch nicht für das Archiv, sondern für die Auseinandersetzung mit der interessierten Öffentlichkeit!“
Neues braucht Zeit
Derweil sitzt er neben Christian Martini, der in den vergangenen acht Jahren mit seinen farbenfrohen Zeichnungen viel Beachtung auf zahlreichen Ausstellungen erfahren hat. Behutsam versucht er, ihn in seinem Sujet zu einer neuen Formensprache anzuregen. Christian Martini vollendet an diesem Abend sein Werk in bewährter Weise. „Veränderungen brauchen wie überall viel Zeit“, ist sich Chepovetskyy sicher. Diese will er den Künstlerinnen und Künstlern geben, um neue Erfahrungen zu sammeln und sich frei und experimentell weiterzuentwickeln.
Die Ausstellung im thalhaus Wiesbaden wird am Sonntag, 29. Januar um 15 Uhr mit einer Vernissage eröffnet. Alle Kunstinteressenten sind herzlich eingeladen.
Foto (EVIM): Artjom Chepovetskyy (Mitte) und Art-Brut Künstler Christian Martini (links)