Der größte Teil des 60.000 Quadratmeter großen Campus Klarenthal ist unbebaut, erläutert Kinderhaus-Leiter Thomas Schulze. Das riesige Außengelände wird auch von den Schulklassen genutzt: der „Tatengarten“, der Pferdestall, die Gehege von Hühnern und Kaninchen. Während die Tiere den Winter lieber drinnen verbringen, sind die Dreijährigen jeden Tag und zu jeder Jahreszeit draußen. Nur bei Gewitter oder Starkregen gibt es ein Ausweichquartier im Kinderhaus.
Jahreszeiten geben den Lehrplan vor
Zwar gibt es auch in dieser Gruppe die vertrauten Kita-Rituale, doch sie sehen immer ein klein wenig anders aus. Im Morgenkreis werden an diesem Morgen neben dem Reporter auch Schneeflöckchen begrüßt. Später wird gefrühstückt – in einem offenen Unterstand (Foto). Vorher müssen aber noch die Hände gewaschen werden. Eine Pädagogin hat dafür eine extra große Thermoskanne mit warmem Wasser mitgebracht. Statt Seife verteilt sie dazu aus einem Schälchen Lava-Erde. Die Kinder verreiben sie mit langsamen, kreisförmigen Bewegungen auf ihren Händen. Die Erzieherin kennt auch die klassische Kita. Zuvor war sie im Kinderhaus tätig, suchte aber den Wechsel. „Ich wollte etwas Neues kennenlernen, mehr draußen sein. Dabei merkte ich, dass mir das selbst sehr gut tut.“
Was ihr rasch aufgefallen ist bei den Waldkindern: „Die Gruppe ist viel ausgeglichener, der Geräuschpegel geringer.“ Offenbar müssen die Kinder hier keine Anspannungen austoben, sondern sind einfach unterwegs. Achtsamkeit sei das Grundprinzip, sagt Kinderhaus-Leiter Schulze. Nicht nur wegen der Montessori-Pädagogik, sondern, weil das Außengelände immer wieder neue Entdeckungen bereit hält. Im Sommer hätten sich die Kinder eine Stunde lang mit einer Hummel beschäftigt, sie auf den Arm genommen. Das Insekt war flügellahm, offenbar berauscht von zu heftiger Bestäubung. Den einzigen festen Lehrplan auf dem Gelände bilden die Jahreszeiten, ansonsten sollen die Kinder sich selbst nach ihren Interessen umschauen. Aber es gibt auch Grenzen: die Wertschätzung gegenüber der Natur etwa. „Die Kinder sollen nicht einfach alles abreißen“, merkt Schulze an. Alles habe einen Wert: für die Natur und die Tiere. Schließlich gehe es auch um die Frage: „Wofür brauche ich es denn?“.
Kreativ lernen und spielen
Dabei hilft ihnen ihre Kreativität. „Für die Kinder verwandeln sich Dinge, wie ein Holz in Rasenmäher oder Hammer.“ Einmal habe die Pädagogin beobachtet, wie die dreijährige Emilia liebevoll ein Stöckchen im Arm wiegte. Das war ihr Baby, das sie fürsorglich mit einem Tannenzapfen als Fläschenersatz fütterte. „Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.“ Auch beim Musizieren. An diesem Tag hat die Erzieherin nur ein klassisches Instrument mit eingepackt – die Maracas, süd- und mittelamerikanische Gefäßrasseln. Ansonsten wird genutzt, was sich so findet: Stöckchen als Klanghölzer, Steine für die Percussion.
Weil die Gruppe immer in Rufweite zusammenbleiben muss, haben die beiden Pädagogen viel mehr Verantwortung. Denn auch im Wald ist nicht alles idyllisch. Es mussten schon Zeckenbisse versorgt werden. Die Kinder dürfen nur die angebauten Früchte im Garten, nicht aber im Wald essen, da könnte der Fuchsbandwurm drin sein. Und sie dürfen auch nicht auf Baumstapel klettern. Draußen gibt es auch keine Toiletten, ein Kompost-WC soll erst demnächst angeschafft werden. So müssen die Betreuerinnen die Kinder abhalten – und mitunter auch mal Häufchen entfernen. Doch das kommt eher selten vor – im Gegensatz zu den vielen Fragen, mit denen die Pädagoginnen immer wieder überrascht werden. Was ist das für ein Blatt? Oder, dass da gerade eine Vogelspur im Neuschnee zu sehen ist. Das Lernen draußen ist aber nicht nur reine Naturbetrachtung. Einmal, erinnert sich Schulze, ging es um einen Stapel Stöcke, die zu Schätzübungen angeregt hatten. „Das ist schon Sekundarstufe I“, meint Schulze zufrieden. Wert wird darauf gelegt, Kinder an das selbstorganisierte Lernen heranzuführen. Zum Beispiel ein Blatt mitzunehmen und gemeinsam im Bestimmungsbuch nachzuschauen, statt die Antwort für sie vorwegzunehmen.
Noch freie Plätze
Weil sie sich viel bewegen, sind die Waldkinder in Sachen Kraft, Motorik und Ausdauer im Vorteil, betonen die Erzieherinnen. Es ist ein freies Erkunden, das die beiden Pädagoginnen fürsorglich und geduldig unterstützen.
Aktuell sind fünf Kinder in der Gruppe, möglich wären 17. Gerade für Stadtkinder sei die Natur-Kita ideal, finden die Pädagoginnen. Wenn sie erst zur Schule gehen, bleibt für solche Erfahrungen kaum Zeit. Das sei auch das Motiv vieler Eltern, ihre Kinder ins Freie zu schicken, erläutert Thomas Schulze. „Sie erinnern sich an ihre Erlebnisse, dass sie zum Beispiel in der Natur Hütten gebaut haben. Diese Erfahrung möchten sie auch ihren Kindern ermöglichen.“
Weil es feste Hol- und Bringzeiten gibt, treffen sich die Eltern regelmäßig, was ihnen Gelegenheit gibt, sich kennenzulernen, gemeinsam etwas zu organisieren. Aber die Wald-Kita hat auch Nebenwirkungen, schmunzelt Schulze. Wenn sich die Eltern am Wochenende gemütlich zu Hause erholen wollen, könne es passieren, dass ihr Nachwuchs energisch auf einen Waldausflug besteht - auch wenn es draußen gerade wieder regnet. (Text und Foto: Dieter Dehler)