Wenn Maryna Artemenko über die „Zeit ohne Präzedenzfall“ berichtet, dann wirkt sie gefasst und ist doch bis ins Innerste getroffen. Ihre und die Familie ihres Mannes, Freunde und Verwandte sind in und um Charkiw zu Hause. „Heute existiert die Hälfte der Stadt nicht mehr und sie wird weiterhin bombardiert.“ Für alle sei das „ganz, ganz schwer“ auszuhalten und traumatisch. Die Odyssee, die für einige die Rettung bedeutete, war „sehr kompliziert“, wie sie berichtet. Jüngerer Verwandtschaft fiel es leichter, den Ort zu verlassen und bis nach Polen zu kommen. Von dort brachte das Ehepaar Artemenko zunächst zwei Frauen und ihre Kinder nach Deutschland. „Ihre Männer dürfen das Land nicht verlassen.“ Nach einem kurzen Zwischenstopp in der Wetterau, der Heimat von Familie Artemenko, zogen die Angehörigen weiter nach Gießen. Dort haben sie inzwischen eine Wohnung und einen Vermieter gefunden, der ihnen sehr hilft. Auch die Schule habe alles dafür getan, dass der Junge inzwischen gut eingeschult werden konnte. Maryna Artemenko hilft bei Übersetzungen, wo sie kann. Dank Apps und digitaler Plattformen ist das auch aus der Entfernung sehr gut möglich.
Ankommen nach dramatischer Flucht
Dramatisch war es, die betagten Eltern aus ihrer Heimatstadt herauszuholen. „Sie wollten die Stadt nicht verlassen.“ So habe ein Cousin die Senioren kurzerhand einfach abgeholt und in den Zug gesetzt. Die Großmutter, bettlägerig und mit 95 Jahren in sehr schlechtem gesundheitlichen Zustand. „Von Charkiw nach Lwiw war der Zug derart überfüllt, dass meine Großmutter eingequetscht wurde und sich das Bein brach.“ In Lwiw musste sie im Krankenhaus notversorgt werden. Der Arzt lehnte eine Weiterfahrt ab. Da war das Ehepaar Artemenko nur noch zwei Autostunden vom gemeinsamen Treffpunkt in Polen entfernt. Eine Umkehr kam nicht in Frage. Schließlich gelang es, für die hochbetagte Frau einen Krankentransport nach Deutschland zu organisieren, während die anderen mit dem Fahrzeug, das ihnen EVIM zur Verfügung gestellt hatte, ihre Fahrt fortsetzen konnten. In Absprache mit ihrer Regionalleiterin Mirjam Schwarz von EVIM, konnten die beiden Appartements in der Flersheim-Stiftung den Flüchtlingen überlassen werden. „Zum Glück waren sie zu diesem Zeitpunkt frei.“ Die Anmeldung für die sechs neuen Mieter erledigte Kathrin Eller-Bellersheim vom IMW ganz unkompliziert. „Wir sind sehr dankbar für jegliche Unterstützung von EVIM,“ lobt Maryna Artemenko ihren Arbeitgeber, der in vielfacher Hinsicht half. Ein ähnliches Beispiel sei ihr nirgendwo anders bekannt geworden. Daher können sie in ihrer Situation zu „einhundert Prozent“ bestätigen, dass das Motto von EVIM zutrifft: da zu sein, wo Menschen uns brauchen.
Flüchtlingen wirksam helfen
Traurig wird ihre Stimme, wenn sie über den Leidensweg ihrer Großmutter berichtet. Bei Bautzen habe sich ihr Zustand derart verschlechtert, dass sie im dortigen Krankenhaus operiert werden musste und wenige Tage später verstarb. Der Umgang mit den Behörden war so problematisch, dass sie gar nicht darüber sprechen mag. Es dauerte eine längere Zeit, bis die Großmutter bestattet werden konnte. Das war für ihre Mutter der schwierigste Moment, den sie kaum aushalten konnte. „Alle waren und sind durch die Kriegserlebnisse schwer traumatisiert“, sagt sie nicht nur als Tochter, Schwiegertochter und Enkelin, sondern auch als Fachexpertin, die Soziale Arbeit studiert hat.
Zwei Monate nachdem die ersten Flüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland gekommen sind, haben sich Netzwerke gebildet und es gibt mehr Erfahrungen in der Eingliederung der Menschen. Mittlerweile haben auch ihre Angehörigen Aufenthaltstitel bekommen. „Die Solidarität in Deutschland ist großartig“, beschreibt Maryna Artemenko. Eine russischsprachige Mitarbeiterin auf dem Migrationsbüro der Stadt Bad Homburg ist „gefühlt rund um die Uhr“ erreichbar. In einer Facebook-Gruppe haben zum Beispiel Bürger angeboten, das zu kaufen, „was die Flüchtlinge wirklich brauchen“, freut sich die Sozialarbeiterin. Hilfebedarf sieht Maryna Artemenko vor allem bei Übersetzungen im Alltag. Auch Englisch ist gefragt. Wer helfen möchte, kann zum Beispiel Flüchtlinge einmal in der Woche auf einem Spaziergang begleiten und ihnen die Stadt zeigen. Oder sie einfach nur beim Einkauf begleiten. Oder ihnen zeigen, wie man eine Fahrkarte kauft oder den Fahrplan liest. „Dank Google-Übersetzungsprogrammen ist das selbst für nicht Sprachkundige möglich.“
Fachliche Angebote erweitern
Nachdrücklich äußert sie, dass die Flüchtlinge viel verdrängt haben. Ganz wichtig sei daher, psychologische und therapeutische Angebote rechtzeitig vorzubereiten. Dort sieht sie noch einen „riesigen Hilfebedarf“ in der Zukunft, der alle EVIM Arbeitsfelder betrifft. EVIM bietet zum Beispiel Fortbildungen in Traumapädagogik an und Hilfe in psychologischen und emotionalen Notsituationen.
Anderen helfen zu können, tue ihr einfach gut, bekennt die Fachexpertin. Ihr Beruf habe sie sehr in dieser persönlichen Situation gestärkt. Hilfe, die den anderen stärkt, das Leben wieder ein Stück weit selbst in die Hand zu nehmen. „Alle Erwachsenen, die hier ankommen, waren es gewohnt, selbstbestimmt zu leben.“ Sie darin zu unterstützen, ihr Leben hier für einige Zeit gut zu meistern und wieder Freude und Wertschätzung zu empfinden, ist immens wichtig. „Nicht nur für den anderen, sondern auch für uns alle.“ (hk)
Unmittelbar verfügbares Telefon- und Videodolmetschen für ukrainische Geflüchtete: www.lingatel.de.Der Dienst richtet sich insbesondere an Ämter, Hilfsorganisationen, Arbeitgeber etc.