Menschen, die im Pflegeheim leben, freuen sich besonders auf das Essen, weil es den Tag strukturiert, die Gemeinschaft fördert und alle Sinne anspricht. Das Riechen, Schmecken, Sehen, Anfassen und Spüren von „Essen“ zu ermöglichen, ist ureigene Aufgabe von Pflegeeinrichtungen. Daher wollte Dipl. Pflegewirtin Bianca Berger ihr Publikum ermutigen, die Bedürfnisse der Menschen wieder stärker in den Blickpunkt zu nehmen. „Das heißt, dass nicht nur der einzuhaltende Bedarf, also Kalorienberechnung, Kontrolle der Verzehrmengen, die Frage, ob normierte Schöpfkellen eingesetzt werden oder wie lange ein Trinkprotokoll zu führen ist, betrachtet werden dürfen“, sagte die Wissenschaftlerin beim ersten „Fachtag Pflege“, den die EVIM Altenhilfe im Wiesbadener Museum am 26. September veranstaltete.
„Wissenschaft trifft Praxis: Vom bürokratischen Irrsinn zur handlungsleitenden Pflegedokumentation“, lautete der Titel der Veranstaltung, die sich überregional an Fach- und Führungskräfte aus der Altenpflege richtete. Mit dem Besuch war Friedhelm Schrey, Geschäftsführer der EVIM –Altenhilfe, hochzufrieden. Etwa 120 Teilnehmer, darunter zahlreiche Mitarbeiter von EVIM, hatten sich angemeldet. Sie konnten an diesem Tag fünf Vorträge und eine Podiumsdiskussion mit hochkarätiger Beteiligung hören, die sich mit dem Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit professioneller Versorgung in der Pflege befassten. Die Redner kamen in der Hauptsache von Hochschulen: Dr. Thomas Beer, ehemals Leiter des Wiesbadener Katharinenstifts, aus Sankt Gallen, Bianca Berger aus Vallendar, Prof. Ulrike Höhmann aus Darmstadt.
Höhmann warnte in ihrem Vortrag ebenfalls davor, die Pflegedokumentation nur „abrechnungsrelevant statt patientenbezogen“ zu sehen. Uwe Brucker vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen zog das Fazit: „Eine individuelle, aktuelle Prozessplanung und -dokumentation ermöglicht eine effizientere und effektivere Einteilung von Zeit, Personal und Hilfsmitteln“. Das Spannungsfeld unterschiedlichster Interessen, in dem sich Pflegekräfte täglich bewegen, wurde in den Beiträgen sehr deutlich. Außerdem stellte Simon Berger von ENP Research & Development eine standardisierte Fachsprache zur Pflegedokumentation vor. EVIM sei hier schon sehr weit und bediene sich der Vorteile solcher Lösungen, sagte Friedhelm Schrey. Dennoch bekräftigte er, dass man „Qualität nicht durch noch mehr Dokumentation erreichen“ könne. Die Politik erlasse ein Gesetz nach dem anderen. Doch: „Wir sind die Fachleute, wir müssen die Maßstäbe setzen“. Dazu gehörten die Reduktion des Dokumentationsaufwands auf das Wesentliche, die Entwicklung einer einheitlichen Sprache, vor allem aber das Abbilden der Lebenswirklichkeit in der Dokumentation. Denn es ginge hier ja nicht nur um Risikofaktoren, Nachweispflichten und letztlich Schadensbegrenzung, sondern um die Menschen in den Einrichtungen.
Das sah auch Thomas Beer so: „Helfen ist nicht Herrschen, sondern Dienen“, zitierte er Kierkegaard. Das dürfe nicht durch Überwachung, Diskreditierung und sogar potenzielle Kriminalisierung eines ganzen Berufsstandes ins Gegenteil verkehrt werden. Denn schon jetzt ist es schwierig – das wussten auch die Praktiker im Publikum – Menschen für diesen Beruf, der noch dazu bekanntermaßen unterbezahlt ist, zu begeistern: Auch das eine Herausforderung der Zukunft.