(evim) Jonas Heidrich aus Hochheim gehört seit dem Frankfurt-Marathon im vergangenen Jahr zu den ganz wenigen Menschen mit Beeinträchtigungen in Deutschland, die die Königsdisziplin über die volle Distanz laufen. Zu diesem sensationellen sportlichen Erfolg kam noch ein großartiger beruflicher Erfolg.
„Marathon zu laufen ist mit nichts zu vergleichen“, sagt der 27-Jährige voller Respekt vor der größten sportlichen Herausforderung, der sich ein Läufer stellen kann. Aber auch mit Stolz, denn er hat sich durchgekämpft, hat durchgehalten und am Ende einen grandiosen Zieleinlauf mit 4h:46 Minuten unter der von ihm angepeilten Zeit von fünf Stunden erlebt. Vor diesem Erfolg standen intensives Training und zahllose Langstrecken-Wettkämpfe. Seit 2009 gehört Laufen zum Alltag des sportbegeisterten Athleten aus Hochheim. Sein Pensum: fünf- bis sechsmal pro Woche bewältigt er Distanzen von fünf bis zehn Kilometern. An den Wochenenden stehen oft 20 bis 30 Kilometer auf dem Programm. Bei Wind und Wetter, im Hellen und Dunkeln, bei Schnee oder sommerlichen Temperaturen. „Nur auf Eis lässt es sich nicht laufen“, meint der sympathische junge Mann schmunzelnd. Auf Grund seiner Lernbehinderung und seiner leichten körperlichen Beeinträchtigung ist die Streckenbewältigung immer auch mit besonderen Herausforderungen verbunden. Seine Familie ist selbst sportbegeistert, unterstützt ihn auch läuferisch aktiv in den Trainingsvorbereitungen. Außerdem fördert ihn sein sportlicher Mentor Ralf Thies aus der Schlocker-Stiftung, der selbst Marathonläufer ist und mit ihm in Frankfurt an den Start ging.
Nicht aufgeben – auch wenn es weh tut
Hauptziel von Jonas Heidrich war es durchzuhalten. „ Aufgeben – das war keine Option“, spricht er aus Überzeugung, obwohl die Königsdisziplin über 42,195 Kilometer den Sportlern alles abverlangt. Sind die ersten 30 Kilometer noch vergleichbar mit Trainingssituationen, wird es ab dieser Distanz richtig anstrengend, zumal der Körper die Kohlenhydrate dann aufgebraucht hat. Zudem führt die Strecke in diesem Abschnitt bis Kilometer 35 auf der Mainzer Landstraße schnurgerade aus. Dass er sich durchgekämpft hat, ist neben der Motivation von Ralf Thies auch der hervorragenden Organisation des Events zu verdanken. „Die großartige Atmosphäre, die mitreißende Stimmung – all das trägt über manch besonders harten Laufkilometer hinweg“. Mit strahlenden Augen berichten beide von den über vierzig Musikgruppen entlang der Strecke, den vielen ehrenamtlichen Helfern, die Verpflegung und Getränke bereithalten und vom Publikum, das jeden der etwa 15.000 Teilnehmer lautstark anfeuert. Besonders dann, „wenn es anfängt, richtig weh zu tun.“ Für Jonas Heidrich war das ab Kilometer 38; da hatte er kurzzeitig „die Nase mal richtig voll.“ Als die Strecke wieder in die Innenstadt führte und die Läufer von der Begeisterung der Zuschauer „getragen“ wurden, brachte das einen Kraftschub bis zum Ziel.
„Gänsehautmomente“
„Frankfurt ist der einzige Marathon weltweit, der in einer Festhalle endet“, erläutert Thies. Die Stimmung sei dort unglaublich intensiv. „Der Zieleinlauf auf dem roten Teppich, vor zweitausend Menschen, unter Konfetti-Regen, Lichterglanz und bebender Musik ist einfach ein sportlicher Gänsehautmoment. Gekrönt wurde dieses Erlebnis davon, als Jonas Heidrich die Ziellinie passierte und seinen Gefühlen freien Lauf ließ“, erinnert sich Thies. Die Eltern und die Freundin nahmen Jonas jubelnd in Empfang und der junge Mann strahlte – ausgepowert aber überglücklich. Dankbar ist Jonas Heidrich besonders auch dafür, dass seine Freundin Brigitte so viel Verständnis für seine sportlichen Ambitionen hat. Als Rolli-Fahrerin begleitet sie ihn ab und an beim Training. Beide leben in einer eigenen Wohnung und teilen sich die Arbeit zu Hause. Jonas, der Leseschwierigkeiten hat, wuppt den Haushalt, während seine Freundin den „Papierkram“ erledigt und den Urlaub plant.
Beruflich auf eigenen Beinen
Beide haben eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt. Das, was so einfach klingt, war für Jonas Heidrich der zweite „Marathon“ im Leben. Zur Werkstatt Schlocker-Stiftung kam er 2009 bereits mit dem Wunsch, in einem Unternehmen außerhalb der Werkstatt zu arbeiten. Bei Ralf Thies war er da in doppeltem Sinn an der richtigen Stelle. Laufbegeistert wie Heidrich ist er dort als Fachkraft für Berufliche Integration für die Vermittlung von Praktika und Betriebsintegrierten Beschäftigungsplätzen zuständig. Er vereinbarte für ihn ein Praktikum in der Poststelle des Landratsamtes im Main-Taunus-Kreis in Hofheim. Die Kreisverwaltung förderte den jungen, wissbegierigen Mann nach Kräften. Die Kolleginnen und Kollegen freuten sich über den leistungsorientierten Praktikanten. Seine offene, freundliche Art, seine Einsatzbereitschaft und sein unbedingter Wille weiterzukommen, brachten ihn mit voran. Bis die Stelle im vergangenen Jahr in einer Festeinstellung mündete, war es jedoch ein langer Weg. „Es kommt darauf an, dass man es will und die Leute dabei hat, die das unterstützen“, reflektiert er. Dankbar ist er für seine Eltern, die ihm in jeder Beziehung geholfen haben und für Ralf Thies. Sein Statement ist klar: „Ich bin hier mit meinen Einschränkungen, aber ich will keine Sonderstellung.“ Seine Aufgaben in der Poststelle beschreibt er fachkundig. Wenn ihm etwas schwer fällt, spricht er es offen an und sucht sich Hilfe. Um seine Lesekompetenz zu verbessern, besucht er privat einen Kurs in seiner Heimatstadt. Ausruhen auf dem Erreichten kommt für ihn nicht in Frage. Manchmal, so erzählt er schmunzelnd, will er auch zuviel „und die anderen müssen mich bremsen.“
Dies gilt ganz gewiss nicht für die nächsten sportlichen Ziele: Die Nationalen Special Olympics vom 14. bis 18. Mai in Kiel. Dort will er neben seiner erfolgreichen Teilnahme über 5.000m, 10.000m und 1.500m mit der 4x400m-Staffel der Schlocker-Läufer eine Medaille erkämpfen. Im nächsten Jahr steht erneut ein Marathon auf dem Programm – diesmal in Hamburg. Aber eigentlich, meint Jonas Heidrich charmant verschmitzt, wäre doch der Marathon in New York auch ein lohnendes Ziel.
Foto (privat): Die Strapazen sind vergessen - Jonas Heidrich (links) und Ralf Thies freuen sich über den Erfolg und die begehrten Medaillen beim Frankfurt Marathon im vergangenen Jahr.