Welches Unternehmen wünscht sich nicht Mitarbeiter, die zuverlässig ihren Job machen. Mit denen man „absolut zufrieden“ ist, so wie die Firma Dolfi 1920 aus Kelsterbach mit Michele di Carlo. Dass der 26-Jährige mit einer Lernbehinderung den Sprung auf den ersten Arbeitsmarkt geschafft hat, ist heute allerdings immer noch die Ausnahme.
In einer großen Lagerhalle im Industriegelände nahe Fraport reihen sich Koffer an Koffer in hohen, an die Decke reichenden Regalen. Sie alle wurden während eines Fluges beschädigt. Die Firma Dolfi 1920 sorgt für deren Reparatur oder für Ersatz. Hier ist der Arbeitsplatz von Michele di Carlo: er lädt die Fracht von den LKWs mit ab, bis zu 400 Stück Reisegepäck pro Tag, und fährt sie mit dem Hubwagen ins Lager. „Man muss das schnell machen, weil das Geld kostet“, erklärt der gebürtige Höchster mit italienischen Wurzeln. Auch beim Etikettieren darf er keinen Fehler machen, weil ein vertauschter Koffer beim Besitzer kaum gut ankommen würde. Dass der in Hattersheim beheimatete di Carlo hier nicht nur seinen Job gut macht, sondern auch selbstverständlich zum Team gehört, ist eine echte Erfolgsstory. Und sie hat viele Gesichter. Zuerst in Gestalt von Cornelia Meyer-Jeran. Sie leitet die Personalabteilung des europaweit aufgestellten Unternehmens und nahm vor sechs Jahren Kontakt zur EVIM Schlocker-Stiftung und den Praunheimer Werkstätten auf mit dem Ziel, behinderte Menschen als Mitarbeiter zu gewinnen. Mit dieser Initiative steht sie in bester Tradition des Familienunternehmens, das der 1920 geborene Großvater Adolf Zentner mit dem Spitznamen „Dolfi“ einmal gründen sollte. Als Jude emigrierte er nach Israel und bot in seiner Firma auch behinderten Menschen einen Arbeitsplatz.
Gut Ding will Weile haben
In der Schlocker-Stiftung traf sie auf Ralf Thies, der als Fachkraft für berufliche Intergration die Klienten auf ihrem Weg in die Arbeitswelt begleitet und die Firmen kompetent unterstützt. „Die Stellenbeschreibung passte sehr gut zu Herrn di Carlo“, so Thies. Von Beginn an wollte der ehemalige Schüler einer Schule für Lernbeeinträchtigte in Hofheim als Lagerarbeiter in einem Unternehmen außerhalb der Werkstatt beschäftigt sein. Thies erinnert sich noch gut an die Zeit, als di Carlo neu in der EVIM Werkstatt war. Das Basecap tief ins Gesicht gezogen nahm er kaum Blickkontakt zu anderen auf und verbarg sich. Vor sich selbst und der Welt. Thies trainierte mit ihm den Fahrweg zur neuen Arbeitsstelle, mit öffentlichen Verkehrsmitteln und Umsteigen am Hauptbahnhof in Frankfurt, „keine einfache Sache, besonders in Stoßzeiten“. Aber es klappte, genauso wie das Erlernen der Aufgaben als Lagerarbeiter. Dass di Carlo dafür etwas mehr Zeit brauchte, war für Meyer-Jeran und das Team kein Problem. „Gut Ding will Weile haben“, sagte die erfahrene Fachfrau, die sich mit dem heutigen Inhaber des Familienunternehmens Gal Zentner für Inklusion stark macht. Auf Grund der guten Erfahrungen mit Michele di Carlo habe man sich dort entschlossen, zwei weiteren Menschen mit Handicap eine Chance zu geben. Mit ihren „Jungs“, wie die Personalchefin die Mitarbeiter aus den Werkstätten anerkennend nennt, wäre sie „100 Prozent zufrieden“. Sie lobte die drei jungen Männer als hilfsbereit, positiv eingestellt und sehr zuverlässig. Auch die Zusammenarbeit mit Herrn Thies sei fachlich Spitze und menschlich sehr angenehm. Thies seinerseits würdigt das Engagement des Familienunternehmens. Michele di Carlo hat hier nicht nur einen Arbeitsplatz gefunden. Er gehört selbstverständlich mit zum Team – im Job und bei Betriebsfesten. Das zeigt, dass Inklusion gelingen kann, wenn der Wille von allen Seiten da ist. Noch immer gäbe es starke Berührungsängste von Seiten der Arbeitgeber, so Thies. Das gängige Bild sei, dass behinderte Menschen viel mehr Zeit erfordern würden als andere Mitarbeiter und weniger leisteten. Kaum bekannt hingegen ist, dass die Übergänge begleitet werden. Integrationsamt, Integrationsfachdienst und Behindertenwerkstatt unterstützen mit Knwo-how und beteiligen sich finanziell, denn bis zu 60 Prozent des Bruttolohnes werden bezuschusst. Selbst wenn aus wirtschaftlichen Gründen behinderte Arbeitnehmer entlassen werden müssten, hätten sie die Möglichkeit, wieder in der Werkstatt beschäftigt zu werden.
Selbstbewusst und unabhängig
Von dem ehemals schüchternen, unsicheren jungen Mann ist heute bei di Carlo nichts mehr zu spüren. „Er hat sich toll entwickelt“, freuen sich alle Beteiligten über den sympathischen jungen Mann, der sagen kann, was er will. Er ist glücklich, das sieht man ihm an. Seine Freundin, die er an den Wochenenden besucht, ist stolz auf ihn. Beide haben große Pläne – ein gemeinsames Leben in einer eigenen Wohnung. Mit dem selbstverdienten Geld rückt dieser Schritt nun in greifbare Nähe. Wie bei allen anderen jungen Menschen auch, die den Schritt in ein unabhängiges Leben geschafft haben. „ Etwa ein Drittel von aktuell 30 Klienten, die das erreichen könnten, wollen auf den ersten Arbeitsmarkt. Seit 2009 ist dies erst in drei Fällen gelungen“, sagt Thies und sieht hier noch viel Aufklärungsbedarf.
Die Erfolgsgeschichte aus Kelsterbach zeigt eindrucksvoll, dass das vielzitierte Wort „Inklusion“ auch in der Arbeitswelt hervorragend funktionieren kann, wenn der Wille aller Beteiligten da ist. Und als erster Schritt nach den Worten von Ralf Thies „eine Tür aufgetan wird“, so wie es die Firma Dolfi 1920 beispielhaft vorlebt.
(Foto: Christian Mayer) Für Michele di Carlo hat sich ein Traum erfüllt - eine Festanstellung bei der Firma Dolfi 1920 in Kelsterbach.