Viele Zuschauer hat dieser Film zutiefst berührt und bewegt. (Kurzinhalt des Films am Ende des Interviews). Es ist ein Film über die Lebensgeschichte eines neunjährigen Mädchens, das als sogenannter „Problemfall“ ständig Bezugspersonen wechseln und Entscheidungen anderer aushalten muss. Die Regisseurin sagte in einem Interview: „Der Film ist ein Diskurs über Gewalt und Aggression und unseren Umgang damit.“ Wir nehmen die Filmgeschichte zum Anlass, um in der EVIM Jugendhilfe über Grenzerfahrungen in der sozialen Arbeit nachzufragen.
"Jugendhilfe kann vieles, aber nicht alles"
Welches Prädikat würden Sie dem Film Systemsprenger geben und mit welcher Begründung?
Klaus Friedrich: Besonders wertvoll! Er ist meines Wissens nach der erste Spielfilm, der die Jugendhilfe in den Vordergrund stellt. Das ist nicht nur für uns Fachleute spannend, sondern auch für die Gesellschaft. Vielleicht eröffnet sich dadurch für manchen Zuschauer ein anderer Blick auf das, was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten.
Systemsprenger ist ein radikales Wort. Es ist kraftvoll und bedrohlich zugleich. Ist dieser Begriff aus Sicht der Fachexperten zutreffend oder umstritten?
Klaus Friedrich: Der Begriff Systemsprenger ist umstritten, weil er nichts mit dem Individuum zu tun hat. Der Mensch geht bei dieser Zuschreibung verloren, zumal auch die Frage erlaubt sein muss, ob nicht das gesamtgesellschaftliche System die betroffenen Kinder und Jugendlichen „sprengt“. Aber er ist an sich mit Blick auf Jugendhilfe und Schule nicht falsch. Es gibt in der Tat keinen speziellen Begriff dafür, dass Kinder es schaffen, Systeme zu sprengen und Fachleute an die Grenzen bringen.
Was ist mit „System“ in der Jugendhilfe gemeint?
Klaus Friedrich: Der Rahmen ist durch das Hilfeplanverfahren, das Jugendamt und die Träger der Angebote vorgegeben. Hinzu kommt der zeitliche Druck, das Richtige für das Kind zu finden und der Kostendruck. Zudem die Zerreißprobe zwischen dem, was die Erziehungsberechtigten bzw. der Vormund für das Kind will und was für das Kind gut ist. Wir können nur begrenzt die leibliche Mutter bzw. den leiblichen Vater ersetzen. Bindungsabbrüche, die daraus resultieren, dass andere für das Kind entscheiden, sind beides zugleich: nachvollziehbar und grausam. Diese Faktoren können leicht zu einer Überforderung führen.
Die das System sprengt?
Klaus Friedrich: Jugendhilfe kann vieles, aber nicht alles. Mit diesem Wissen muss man Strukturen schaffen, die es Pädagogen und Pädagoginnen ermöglichen, ein hohes Maß an Bindung zu bieten und sich gleichzeitig abzugrenzen.
Gibt es in der EVIM Jugendhilfe Angebote und Leistungen, die speziell auf Systemsprenger vorbereitet sind?
Klaus Friedrich: Für Kinder, die uns an die Grenzen bringen, haben wir spezielle Angebote in Sprendlingen, Morbach, Spanien, in der Flex Dotzheim, in Intensivgruppen und Erziehungsstellen. Aber auch in den Regelangeboten gibt es Kinder, auf die diese Zuschreibung passt und die wir dort gut betreuen.
Was unterscheidet die einzelnen Angebote?
Klaus Friedrich: Einerseits sind das die Rahmenbedingungen wie Personalschlüssel, räumliche Gegebenheiten und die Anzahl der zu betreuenden Kinder. Eine Fachkraft betreut in diesen Angeboten generell weniger Kinder und meist in einem ländlichen Setting. Andererseits sind es die Mitarbeitenden, die bereit sind, einen Teil des Privatlebens einzubringen. In Morbach, zum Beispiel, leben die Mitarbeitenden im wöchentlichen Wechsel für jeweils sieben Tage in der Einrichtung. Manchmal braucht es auch eine sehr große räumliche Entfernung wie bei unseren Angeboten in Spanien, damit Kinder raus aus symbiotischen Beziehungen kommen können.
Wie sind Fachkräfte darauf vorbereitet, dass Kinder sie an ihre Grenzen bringen?
Klaus Friedrich: Die Themen Fortbildung, Supervision und Team sind Standard auch in der Ausbildung. Für uns in der EVIM Jugendhilfe ist das Thema „Haltung“ besonders wichtig. In dem Film kam das übrigens sehr gut zum Ausdruck: Dem Mädchen gelang es erst spät, den Pädagogen zu personifizieren. Bis dahin hatte es ihn „Erzieher“ geschrien. Als Pädagoge ist man Projektionsfläche für das Kind. Hier geschieht Auseinandersetzung und Reibung. Auslöser dafür sind nicht immer Worte, sondern oft auch Gesten, Gerüche, Geräusche, die traumatische Erfahrungen an die Oberfläche bringen. Die Herausforderung an uns Fachkräfte besteht darin, Wut und Aggression nicht persönlich zu nehmen.
Erwachsene, die nicht in ein System passen, sind mündig. Kinder hingegen müssen die Entscheidungen anderer für sie aushalten. Wie gehen Fachkräfte mit diesem Balanceakt um?
Klaus Friedrich: Zum Hintergrund: Es sind meist die Erziehungsberechtigten oder der Vormund, die den Antrag auf Erziehungshilfe stellen. Über die Maßnahme selbst entscheidet das Jugendamt. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass das Kind sicher aufwachsen kann. Daher können wir nur argumentativ und fachlich Einfluss nehmen. Wir bemühen uns darum, so lange wie möglich in der Verantwortung für das Kind zu bleiben und Angebote zu machen. Als Pädagogen sind wir in jedem Fall angehalten, uns in der Betreuung zu fragen: Würdest Du das auch tun, wenn ein anderer von außen zuschaut?
Eine Frage von Macht?
Klaus Friedrich: Ja. Es geht auch um Macht. Das müssen wir stets reflektieren und auch die Frage von Nähe und Distanz immer wieder neu beantworten. Diese Themen sind Teil unseres Weiterbildungskonzeptes „Sichere Orte gestalten“, das für alle Mitarbeitenden verbindlich ist.
Was sind Voraussetzungen dafür, dass pädagogische Arbeit gelingen kann?
Klaus Friedrich: Im Idealfall, und diesen gibt es tatsächlich, geben uns die Eltern quasi die „Erlaubnis“, ihr Kind zu erziehen. Das heißt, sie tolerieren die Maßnahme und signalisieren zugleich ihrem Kind: Wir sind für dich da. Zu optimalen Rahmenbedingungen gehört auch, dass die „Chemie“ zwischen den Menschen stimmen muss und der Betreuungsschlüssel. Für eine Wohngruppe ist ein Pädagoge für acht Kinder da. Das kann nicht zufrieden stellen. Und es ist auch Anlass darüber zu diskutieren, wie viel die Gesellschaft bereit ist, für diese Kinder zu investieren. Wir wollen familienanalog erziehen, aber in diesem Rahmen ist das kaum umsetzbar.
Und wenn alle Maßnahmen scheitern? Wie geht es dann weiter – für alle Betroffenen?
Klaus Friedrich: Nicht nur im Film sondern auch in der Realität gibt es das „Hopping“: von einer Maßnahme in die nächste, von einer Gruppe in die nächste in der Hoffnung, dass es diesmal funktioniert. Unser Anspruch ist es, nie ein Kind aufzugeben. Manchmal allerdings ist es gut, die Betreuung niedrigschwellig anzubieten, wie zum Beispiel in unseren Notschlafstellen. Es gibt immer wieder Jugendliche (und auch leibliche Eltern), die sich gegen alle Bindungsangebote und gegen die Hilfesysteme entscheiden.
Wird auch mit den Eltern gearbeitet?
Klaus Friedrich: Im stationären Rahmen wird bei Minderjährigen, wenn möglich, mit den Eltern gearbeitet. Es wäre in der Tat sehr wichtig, dass mit den Eltern parallel dazu auch ambulant noch intensiv an ihrer Rolle gearbeitet wird. Leider ist das kein gesetzlicher Standard. Es stehen dafür kaum Kapazitäten zur Verfügung. In Einzelprojekten wie NeSt versuchen wir, diesen Anspruch zu realisieren. In Planung ist derzeit ein Angebot für Grundschüler in Wiesbaden, das mit intensiver Elternarbeit verbunden ist.
Sind Kinder, die aus allen Maßnahmen rausfliegen, verlorene Kinder?
Klaus Friedrich: Wir versuchen immer, Optionen zu finden. Dennoch, es gibt Kinder, für die wir keine Angebote haben. Daher: Ja, das stimmt in gewisser Weise schon. Geschlossene Einrichtungen sind aus meiner Sicht ein Armutszeugnis für die Gesellschaft.
Für den Film recherchierte Nora Fingscheidt vier Jahre. Sie sagte, dass der Film keinen Anspruch auf Realitätswidergabe habe. Denn die Realität sei viel schlimmer. Stimmt das aus Ihrer Sicht?
Klaus Friedrich: Ja und Nein. Ja, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse mit einer immer stärkeren Polarisierung in arm und reich einhergehen. Daraus resultieren auch ungleiche Bildungs- und Lebenschancen, die dazu führen, dass immer mehr Kinder und Jugendliche mit diesem System nicht mehr klar kommen. Und Nein, weil es bereits ganz viele richtige und gute Angebote gibt. Und auch viele positive Beispiele. Die Jugendhilfe besteht nicht nur aus sogenannten Systemsprengern.
Erinnern Sie sich an einen Fall, der für Sie eine Grenzerfahrung war?
Klaus Friedrich: Ich habe vor Jahren bei Angeboten wie Boys und JamB Mainz mit relativ „verhaltensoriginellen“ Jungen und Mädchen gearbeitet. Die Grenzerfahrung dabei war auszuhalten, nicht alle retten zu können. Persönlich fällt es mir leicht, mich in Grenzsituationen, wenn man bespuckt oder geschlagen wird, als Person ‚herauszunehmen‘.
Wie hat Sie diese Erfahrung geprägt?
Klaus Friedrich: Ich empfinde eine gewisse Demut, dass es Kinder gibt, die unter schwierigsten Rahmenbedingungen aufwachsen und doch glücklich ihren Weg gehen. Ich erinnere mich an einen von uns betreuten Jugendlichen, der alle in Angst und Schrecken versetzt hat. Inzwischen ist er selbst Familienvater und hat eine Arbeitsstelle. Für seine Hilfe in einer Notsituation wurde er sogar offiziell geehrt.
In der Diskussion im Anschluss an die Filmvorführungen in Wiesbaden wurde gefragt, ob es Systemsprenger auch im Amazonas geben würde? Was meinen Sie dazu?
Klaus Friedrich: Das ist eine spannende Frage und nicht nur an Fachleute! Im Kern geht es ja darum, inwieweit die Ansprüche und Erwartungen, der Leistungs- und Erfolgsdruck in unserer Gesellschaft mit verantwortlich dafür sind, dass Menschen nicht wie erwartet funktionieren, also quasi vom System ausgesondert werden bzw. das System sprengen.
EVIM Jugendhilfe betreut 900 Kinder und Jugendliche mit rund 400 Mitarbeitenden in über 70 Betreuungseinheiten. Sind Systemsprenger eher eine Randerscheinung in der Gesellschaft?
Klaus Friedrich: Ja. Nicht vergessen dürfen wir allerdings, dass es gefährdete Kinder gibt, die nicht auffallen, weil sie introvertiert und depressiv sind.
Herr Friedrich, vielen Dank für das Gespräch! (hk)
Veröffentlicht im EVIM Magazin 1/2020
Kurzinhalt Film „Systemsprenger“
Pflegefamilie, Wohngruppe, Sonderschule: Egal, wo Benni hinkommt, sie fliegt sofort wieder raus. Die wilde Neunjährige ist das, was man im Jugendamt einen „Systemsprenger“ nennt. Dabei will Beni nur eines: Liebe, Geborgenheit und wieder bei ihrer Mutter wohnen! Doch Bianca hat Angst vor ihrer unberechenbaren Tochter. Als es keinen Platz mehr für Benni zu geben scheint und keine Lösung mehr in Sicht ist, versucht der Anti-Gewalttrainer Micha, sie aus der Spirale von Wut und Aggression zu befreien.