„Die erste Anschaffung war eine dicke Jacke und ein Paar Gummistiefel“, berichtet Dr. Irmela Harz, Praxisanleiterin im Schlockerhof Hattersheim. Die Winterausrüstung brauchte Fabrice Aristide Kinsou dringend, denn er benötigt in seinem Alltag im Heimatland Benin eher nichts dergleichen. „Es war auch ganz schön hart für ihn, im Winter anzufangen“, sagt Harz. Seit Oktober ist Kinsou in der Gärtnerei in Hattersheim tätig. Das aber mit sehr großem Interesse: „Die Kräuter für die Grüne Soße kennt er alle schon“, lacht Dr. Irmela Harz, die von beiderseitiger Neugier berichtet: „Auch die Mitarbeiter:innen der Gärtnerei wollten vieles über Benin wissen: Was isst man dort? Welche Kleidung wird dort getragen? Welche Musik hört man?“
Willkommener Perspektivwechsel
Für beide Seiten ist das ein willkommener Perspektivwechsel, das bestätigt auch Christian Kulik, der für EVIM die Freiwilligendienste im so genannten „SüdNord-Programm“ koordiniert. Schon länger schickt EVIM junge Deutsche in andere Länder, so zum Beispiel nach Nicaragua oder eben auch schon seit sechs Jahren nach Benin und in andere afrikanische Staaten. Nun sind mit Fabrice Aristide Kinsou und Abdou Malick Kora erstmals zwei Freiwillige aus dem westafrikanischen Land in Deutschland. Sie wohnen in einer eigens angemieteten Wohnung im Wiesbadener Westend. Beide haben in Benin Germanistik studiert, Kora hat bereits den Bachelor-Abschluss, Kinsou muss anschließend weiter studieren. Abdou Malick Koras Einsatzstelle ist das Seniorenzentrum Taunusstein. Auch ihm gefällt es dort gut, berichtet er beim Zoom-Pressetermin. „Ich bin für die Alltagsbetreuung zuständig, gehe mit den Menschen spazieren, helfe beim Essen, lese vor.“ Solche Senioreneinrichtungen gibt es in seinem Heimatland nicht, sagt er. „Es ist sehr interessant, zu sehen, wie gut hier die alten Menschen betreut werden.“ Auf die Idee, ein freiwilliges Jahr in Deutschland zu absolvieren, kam er durch einen Dozenten an der Uni. Kinsou hatte von einem Freund, der bereits in Deutschland ist, von der Möglichkeit gehört.
Organisiert von „Weltwärts“
Über die Organisation „Weltwärts“ läuft die Bewerbung, „wir haben einen lokalen Partner vor Ort, der sich kümmert“, sagt Christian Kulik, „das ist uns auch sehr wichtig, um die Einsätze gut vorzubereiten.“ Die Ziele des Süd-Nord-Programms, das vom Familienministerium gefördert wird, sind der Erwerb sozialer Erfahrungen im Kontext institutioneller sozialer Arbeit, die Auseinandersetzung mit Entwicklungspolitik und die Erweiterung der individuellen Kompetenzen. Dazu kommt die Förderung nach gleichberechtigtem Austausch zwischen den Partnern des Globalen Südens und Nordens und den Zivilgesellschaften. Was so akademisch klingt, wird von den beiden jungen Männern aus Benin täglich mit Leben gefüllt: Nicht nur bei ihrer Arbeit auf den beiden Einsatzstellen, sondern auch im Alltag. Es sei nicht leicht, sich in einer deutschen Großstadt zurechtzufinden – zumal unter Pandemie-Bedingungen, berichten die beiden.
Paten erwünscht
Banale Dinge wie die Tatsache, dass man für den Einkaufswagen im Supermarkt einen Euro braucht, wie man die Fernsehprogramme einstellt und wo man unter Pandemiebedingungen Sport machen kann – auf dem Freiluft-Sportgelände hinter dem Hauptbahnhof nämlich! – müssen erst einmal herausgefunden werden. „Da wäre es gar nicht schlecht, persönliche Paten zu haben“, findet Dr. Harz. Diese Idee unterstützt auch Andrea Stinner, Leiterin des Freiwilligen Engagements bei EVIM. „Wir suchen junge Leute, die sich für so eine Mentorenschaft interessieren“, sagt sie. Denn im kommenden Jahr werden gleich sechs junge Menschen aus Benin in Wiesbaden erwartet. Der Austausch wird von beiden Seiten sehr positiv bewertet. Spannend ist auch, dass man viele Erfahrungen ins Heimatland mitnehmen und vielleicht dort neue Berufsmöglichkeiten in der sozialen Arbeit entwickeln kann, meint Abdou Malick Kora. Wichtig sind auch die gesellschaftspolitischen Seminare, an denen die Freiwilligen teilnehmen. Viele mussten unter Pandemiebedingungen online stattfinden – „das war nicht so einfach“, sagt Kinsou. Man hofft, im Sommer wieder Seminare in Präsenz veranstalten zu können. Von EVIM fühlen sich beide indes gut betreut, auch eine Corona-Impfung konnte im vergangenen Herbst spontan organisiert werden. „Deswegen kamen beide gleich auf uns zu und wir haben das natürlich gerne möglich gemacht“, berichtet Christian Kulik.
Von Anja Baumgart-Pietsch