„Nein, ein Fest soll und kann diese Veranstaltung nicht sein“, sagte Heinz Schildger (70), der hier als kleiner Bub sechs Jahre seines Lebens verbracht hatte. Er arbeitet federführend in der Projektgruppe mit und weiß um die „gemischten Gefühle“, mit denen die Ehemaligen zu diesem Treffen kommen. Engagiert setzt sich die Projektgruppe mit all dem auseinander, was der Aufarbeitung des Themas dient. Denn die Auswirkungen des Heimaufenthaltes und von erlebter Kindheit sind weitreichend und bestimmen den persönlichen und beruflichen Lebensweg der ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner bis heute mit.
Lebensprägende Erinnerungen
Deren individuelle Lebensgeschichte und ihre persönlichen Erinnerungen an die Zeit auf dem Geisberg standen im Mittelpunkt der Gespräche und des Austausches unter den rund 35 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Dazu gehörten auch erlittene Traumatisierungen, psychische Spätfolgen und die Frage, wie die Betroffenen damit umgegangen sind. Fast zum Greifen nah wurde das Erinnern während der Rundgänge in den Räumlichkeiten, die damals Schlafsaal, Ess-Saal, Großküche, Duschen und Erzieherzimmer waren. Berührt, bestürzt und manchmal ergriffen standen Erwachsene wieder an dem Ort, an dem sie die ersten Jahre ihres Lebens oder sogar ihre gesamte Kindheit und Jugend verbracht hatten. Auch wenn dieser Ort heute natürlich ganz anders eingerichtet ist und genutzt wird. Negative, aber auch positive Erinnerungen tauchten plötzlich wieder auf. Dass das Sagbare so offen und freimütig benannt werden konnte, lag nicht nur an der intensiven Vorarbeit der Projektgruppe und der hervorragend organisierten und begleiteten Veranstaltung. Es waren die Ehemaligen selbst, die die enorme Leistung aufgebracht haben, über ihre individuelle Lebensgeschichte zu sprechen. Biografien, die zum Teil mit einer fassungslos machenden Gewalterfahrung und Vernachlässigung durch die leiblichen Eltern begannen. Mit der Verlorenheit, als sogenanntes Besatzerkind nach dem Krieg in ein „Mischlingskinderheim“ gekommen zu sein und von dort zum Heim auf dem Geisberg. Die sich fortsetzten in Herabwürdigung und Missbrauch, in Erfahrung von körperlicher Züchtigung, in oft auch fehlendem Beistand. Aber auch ehemalige Erzieherinnen sprachen sichtlich bewegt darüber, nicht allen Kindern gerecht geworden zu sein. Dass sie Kinder beschützen wollten, aber es unter den damaligen Verhältnissen nicht immer vermocht hatten. Dass sie in schwierigen Situation selbst Angst und wenig oder keine Unterstützung hatten.
Abgeschottet von der Gesellschaft
Die Bandbreite der Erinnerungen war enorm. Das wurde besonders in der Talkrunde deutlich, die von Olav Muhl, Fachbereichsleiter und Mitglied der Projektgruppe souverän moderiert wurde. So gab es durchaus auch Positives, an das sich einige Ehemalige erinnerten: Die Erzieherin, der man sehr dankbar war. Reisen der Heimkinder nach Sylt und in den Schwarzwald. Die Weite des Geisberg-Geländes mit Wiesen, Landwirtschaft und Tierhaltung. Ein Ehemaliger bekannte, dass er nach mehreren Heimstationen hier zur Ruhe gekommen sei. Zwei der Ehemaligen arbeiten bereits seit über 40 Jahren bei EVIM. Die meisten jedoch teilten besonders die bedrückende Erinnerung, „als Gruppe auf dem Geisberg von der Außenwelt abgeschottet“ gewesen zu sein: „Ich hatte die Sprache der Gesellschaft nicht gesprochen und die Gesellschaft hatte mich nicht verstanden“, brachte es ein Ehemaliger auf den Punkt. Auf das Erwachsenenleben waren sie kaum vorbereitet. Für manche wurde es ausweglos, wie Teilnehmer berichteten.
Sichere Orte schaffen
„Die Jugendhilfe ist immer ein Spiegelbild gesellschaftlicher Rahmenbedingungen“, sagte Heinz Schildger. Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema wolle man nicht im Nachgang mit den Erkenntnissen von heute 'verurteilen', sondern lernen, wie es zukünftig besser gemacht werden kann. Dass die Jugendhilfe des Vereins von damals mit der von heute nicht vergleichbar ist, steht außer Frage. Das Schutzkonzept und Handlungsleitlinien wie „Das Kind im Mittelpunkt“ sind nur einige Beispiele, wie EVIM fachlich arbeitet. Klaus Friedrich, der die Jugendhilfe bei EVIM leitet, würdigte die wichtige Arbeit der Projektgruppe, ebenso wie der Vorstandsvorsitzende Pfarrer Matthias Loyal in einem schriftlichen Grußwort. Der Fachbereichsleiter berichtete, dass aktuell „immer mehr junge Menschen Hilfe brauchen“. Die derzeitige Anfragesituation sei „immens“ und stelle die Jugendhilfe vor große Herausforderungen. Umso wichtiger sei es, „genau hinzuschauen“. Ziel sei es, für Kinder sichere Orte zu schaffen und sie darin zu unterstützen, ihre Rechte zu kennen und sie einzufordern.
Die Projektgruppe will sich weiter besonders dafür einsetzen, den individuellen Lebensgeschichten Gehör zu verschaffen. Geplant ist eine Publikation. „Wir wollen nicht, dass über uns gesprochen wird, sondern wir wollen unsere Geschichte selbst erzählen.“ Dafür und für die Auseinandersetzung mit allgemeinen Themen zur Heimerziehung sucht die Projektgruppe neue Mitstreiter:innen:
Kontakt: Jutta Kliefoth-Wagner, (jutta.kliefoth.wagner@gmail.com) und Heinz Schildger (heinz.schildger@t-online.de)
Beratungsangebot: Diana Bruski, Diplom Sozialarbeiterin und Systemische Therapeutin, Mobil: 0170 3078774; E-Mail: diana.bruski@gmail.com
Die Geisberg-Treffen finden zweijährlich statt, das nächste im Jubiläumsjahr von EVIM 2025. (hk)